Du betrachtest gerade „Johann Holtrop“, ein modernes Märchen um Rache und Gefühle

Glaube, Optimismus, Erfolg, der recht gibt. Im Staatstheater Mainz kann man nur über „Johann Holtrop“ staunen. 2012 veröffentlichte Rainald Goetz einen viel diskutieren Roman, der zur Verwunderung Anlass gab. Handelte er doch von einer „Luftnummer“, einer Person, der man vielleicht völlig unverständlicher und ungerechtfertigter Weise Vertrauen und Bewunderung entgegenbrachte. Die Vorlage zu Aufstieg und Fall dieser Person lieferte Ex-Bertelsmanns-Vorstand Thomas Middelhoff, der weniger an seinem Verhalten, als an seiner Fähigkeit, sich nicht erwischen zu lassen, scheiterte. Klar, dass dies auch einen Fall für den Kulturbotschafter des UniWehrsEL darstellt.

Liebes UniWehrsEL,

guten Morgen, kennst du schon Johann Holtrop? „Als der Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren“, frei zitiert nach Johann Holtrop. Das Stück behandelt die Geschichte des Managers Thomas Middelhoff. Er ist Vorbild für die Kunstfigur Johann Holtrop. Im Grunde geht es auch in diesem Stück um den Wald und die Natur. Gemeint ist aber der Betonwald und die Natur des Menschen. Es geht um das Ego des reichen Mannes, der durch die richtige Ausbildung an den Platz an der Spitze gelangt ist – ohne große Mühe, ohne Anstrengung – erfolgsverwöhnt und eitel, ein Selbstdarsteller, selbstverliebt, selbstbezogen.

Irgendwie logisch, dass dieser Typ scheitern muss. Er ist eine Karikatur auf den erfolgreichen Geschäftsführer. Seine Uniform, klar, ein mintgrüner Anzug, dazu große Sprüche. So ein Typ sorgt für Aufsehen. Er lebt im Betonwald.

Wäre das Stück eine Fabel, so träfe Johann Holtrop auf allerlei bösartige Tiere wie den Wolf, den Fuchs. Seine Gegner sind Männer in Maßanzügen, mit dicken Bäuchen. Männer die neidisch sind, seinen Posten wollen. Die Männer verhalten sich wie ein Wolfrudel. Nur vor Stärke haben sie Angst und Respekt. Schwäche das riechen sie.

Es ist ein Gag der Storyline, dass Johann Holtrop einen ergrauten Wolf hinauswirf, als er diesen für schwach hält. Dieser graue Wolf ist Thewe. Er war der Star der Firma und Rudelführer in den 1999ern. Nun beginnt aber das neue Jahrhundert. Es soll Johann Holtrops beste Zeit werden.  Eine Zeit in der ‚Marketingbingo‘ und die Sprache von der goldenen Zukunft die Firma am Laufen hält. Johann Holtrop ist unentbehrlich, unantastbar. Doch er nutzt seine Hochphase nicht und so kommt nach neun Jahren der Abstieg. Er wird vom Firmengründer entfernt.

Johann Holtrop hat bei Thewe den Privatermittler angesetzt, um sich um die Pensionsansprüche von Thewe zu drücken. Johann Holtrop geht mit goldenem Handschlag und 40 Millionen. Das müsste reichen, denkt sich der Zuschauer.  Aber nein. Johann Holtrop erleidet einen Zusammenbruch. Kommt in die Irrenanstalt. Ein Schaf kann der Wolf nicht sein. Nach seiner Genesung wird er Investmentbanker in London.

Denn zu Hause wartet nicht die Frau und vier Kinder, sondern seine Familie ist auf seine Abwesenheit eingestellt. So hängt Johann Holtrop in den Seilen. Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Private ist keine Rettung. So muss er Investmentbanker werden, und er verwaltet Gelder. Doch etwas fehlt. Der Ruhm, die Prominenz. Deshalb übernimmt er quasi halbtags den Job als Firmenretter; und das ohne Sachkenntnis.

Er lebt ein Leben auf der Überholspur. Er fliegt um die Welt. Genau wie sein bereits erwähntes reales Vorbild. Zunächst scheint alles nach Plan zu laufen. Die Firma, angedeutet wird Karstadt, scheint gerettet. Die Presse feiert ihn. Dann der Absturz. Vorwurf der Insolvenzverschleppung. Plötzlich spielt das Thema Rache eine Rolle. Johann Holtrop will sich an den Banken rächen. Sie haben ihre Zusagen nicht erfüllt. Auch sein Privatvermögen ist nun weg. Durch falsche Berater. Wieder diese Banken. Die Rachegefühle steigen. Doch nicht nur seine eigenen, sondern auch die Rachegefühle der Arbeiter und Angestellten. Sie verlieren ihre Jobs und einer muss daran schuld sein. Die Presse berichtet. Aus dem Retter wird ein Betrüger gemacht. Die Party ist für Johann Holtrop vorbei. Der letzte Tango ist getanzt. Die Gesellschaft fordert ihre Rache. Denn es ist nichts aus den Versprechen des Johann Holtrop geworden. So wirft Johann Holtrop sich vor den Zug. Die Rache der Gesellschaft ist vollbracht.

Das Stück zeigt die Wirtschaft ab 2001 bis 2010. Natürlich im Gewand der Übertreibung. Es ist kein einfaches Stück, was das Schauspiel Mainz dem Publikum vorträgt. Dennoch muss der Zuschauer keinesfalls Wirtschaft studiert haben, um den Abend zu begreifen. Es ist vielmehr ein modernes Märchen, welches einen Einblick in die Welt der Wirtschaft, Konzerne, Milliardäre gewährt oder wie sich das Publikum diese Welt so vorstellt. Das Stück mutet weniger idealistisch an, als ein Brecht Liederabend, der gleichzeitig am Staatstheater Wiesbaden stattfindet.

Er zeigt den Abriss der Gesellschaft, wie der Untertitel heißt, an der Titelfigur Johann Holtrop. Dieser schwebt als Geschäftsführer lange über der Gesellschaft. Bis er glaubt, die Regeln der Gesellschaft wie Anstand, Höflichkeit gelten nicht für ihn, weil er erfolgreich ist. Der Erfolg gibt ihm recht. So lange bis sich die Zeit ändert.

Letztlich schafft es Johann Holtrop nicht, den richtigen Ton zu treffen. Die Rettung hatte gar keiner verlangt. Diesen Anspruch hatte er sich selbst gegeben. Nun ist er nicht mehr der Wolf, sondern das Schaf und wird von den Rachegefühlen der Wölfe zerfleischt. Denn wer ist schon gerne ein Schaf in einer harten Businesswelt.

Zwar sieht der Zuschauer in diesem Stück keinen Wald im herkömmlichen Sinn. Aber im übertragenden Sinn schon. Denn Johann Holtrop ist ähnlich planlos wie Max aus dem „Freischütz“.

Zur Erinnerung, Max hat Selbstzweifel vor der Jägerprüfung und mogelt mit Freikugeln. Johann Holtrop hat Selbstzweifel. Nur werden diese durch Selbstbeschwörung und Yoga wegtrainiert. Er braucht keine Freikugeln für sein Selbstbewusstsein, sondern nur die Selbstbeschwörung. Wer hinterfragt schon den Leitwolf?

Am Ende gelingt Max nicht die Prüfung, aber er findet trotzdem sein privates Glück. Selbst dieser Hoffnungsschimmer bleibt Johann Holtrop im modernen Märchen verwehrt. Seine Frau hat sich schon ein anderes Alphatier gesucht. Jünger und erfolgreicher. So nimmt sie auch Rache an Johann Holtrop im Privaten für seine Abwesenheit bei der Partnerschaft.

Moderne Märchen können halt grausam sein. So fühlt der Zuschauer zwar mit dem Titelhelden mit, aber empfindet an der Stelle der Selbstüberschätzung des Johann Holtrop das Gefühl der Fremdscham. Dem Narren kann der Zuschauer vergeben. Dem Hochnäsigen betrachtet der Zuschauer ohne Mitleid. Ein Narr wollte Johann Holtrop nicht sein. Er hat sich trotzdem dazu gemacht. Nicht nur die Belegschaft und Presse leben ihre Rachegelüste an Johann Holtrop aus. Auch der Zuschauer ertappt sich bei Rachegefühlen, wenn Johann Holtrop seine Bonität retten will, statt der Firma, was doch sein Auftrag war.

So ist das Stück auch eine Rachephantasie der Mittelschicht an der Oberschicht. Sie ist ohne Empathie gegenüber der Mitte. Bei dem Absturz schaut die Mitte im Theater gerne zu. Ich habe die Aufführung am 07.05.24 besucht. Die Hauptrolle spielt Henner Momann. In dieser Businesswelt gibt es keine Frauen. Alle Rollen werden von Männern gespielt. So auch Sekretärin, Journalistin. Der Chor der Arbeiter ist wütend und doch hilflos. Die Businesswölfe waren sehr beeindruckend.

Auf einen Kommentar im Kontakt freut sich der Kulturbotschafter des UniWehrsEL

Danke an Sarah Richter für den Wolf im Schafspelz auf Pixabay!