Du betrachtest gerade Kulturtipp „Graphic Revival“ in Darmstadt – Gedanken zu Natur, Mensch und Industrie

Die Engländer James McNeill Whistler (1834 – 1903) und sein Schwager Francis Seymour Haden (1818 – 1910) entdeckten die Kunst der Radierung im neunzehnten Jahrhundert als künstlerische Ausdrucksform wieder. Das sogenannte »Etching Revival« wurde nun in England für eigenständige Kunstwerke genutzt. Das Hessische Landesmuseum Darmstadt zeigt eine kritische Ausstellung zu den Folgen der Industrialisierung, wie schon in unserem Beitrag zur Zeitgeschichte – Segen und Fluch der Technik für den Menschen. In der Ausstellung »Graphic Revival« wird nun in 75 Werken von 28 Künstlerinnen und Künstlern der Wandel der Naturlandschaft zur Industrielandschaft künstlerisch dargestellt. Dies hat sich der Kulturbotschafter des UniWehrsEL näher angesehen und sie mit dem Begriff „Exzess“ verknüpft. Herzlichen Dank dafür!

Liebes UniWehrsEL,

die Ausstellung „Graphic Revival – Natur, Mensch, Industrie in England um 1900“ in der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt lädt zu einem Besuch ein. Thematisiert wird hier nicht nur den Wandel von Natur- zu Industrielandschaften, sondern auch der Exzess, der mit der industriellen Revolution einherging. Der Begriff Exzess beschreibt hier die maßlose Ausweitung industrieller Aktivitäten, die zu massiver Umweltzerstörung und extremen sozialen Veränderungen führte. Gezeigt werden 75 Werke von 28 Künstlern, was die Vielfalt und Tiefe der Ausstellung unterstreicht.

Es ist eine besondere Freude, dass das Landesmuseum diese Druckgrafiken englischer Zeitgenossen überhaupt zeigen kann. Leider war durch die verheerende Brandnacht vom 11. zum 12. September 1944 nur noch ein Blatt übriggeblieben, da der Rest des Bestands verbrannt war. In den 1990er Jahren konnten aus Privatsammlungen vier neue Radierungen erworben werden. Besonders bemerkenswert ist die Schenkung von 121 Druckgrafiken englischer Künstler des 19. Jahrhunderts im November 2022 aus dem Nachlass von Herrmann Kleinstück (1933-2017). Er hatte seine Sammlung gemeinsam mit seiner Frau ab den 1960er Jahren aufgebaut. Diese Schenkung bildet die Grundlage für die gezeigte Ausstellung „Graphic Revival“.

Die Ausstellung beschäftigt sich zudem mit der barocken Bildsprache von Rembrandt, insbesondere dem Hell-Dunkel, das im Rahmen des „Etching Revival, zu Deutsch Wiederentdeckung der Radierungstechnik, neu interpretiert wurde. Die Idee für diese Bewegung wurde dem Maler James McNeil Whistler (1834-1903) und seinem Schwager Francis Seymour Haden (1818-1910) zugeschrieben. Haden war Chirurg, begeisterter Künstler und Sammler. Deshalb plädierte er besonders für diese Wiederentdeckung der alten Technik.

Als erstes zeigt die Ausstellung das Thema Natur. Diese Natur entspricht nicht der Realität, wie es eine heute erstellte Fotografie täte, sondern es ist eine sogenannte inszenierte Natürlichkeit. Ein Beispiel ist die Radierung „Shere Mill Pond„. Sie zeigt einen weißen Himmel, der sich in einem bewegten Teich spiegelt. Daneben sieht der Betrachter die üppige Vegetation. In den Fokus des Betrachters gerät ein Durcheinander von Schilfgräsern. Weitere Beispiele für solche inszenierte Natürlichkeit wäre für mich eine weitere Arbeit mit einem, auf einer Wiese geduldig wartenden Esel, der eine große Last trägt.

Der zweite Teil der Ausstellung „Mensch, Industrie um 1900“ bietet ein anderes Bild. Diese Radierungen zeigen die gnadenlose Zerstörung der Umwelt durch die Dampfmaschine und Schwerindustrie in Mittelengland, das sogenannte „Black Country“, zu Deutsch „schwarzes Land“. Diese Bilder lassen den Betrachter an Erzählungen des Schriftstellers Charles Dickens denken.

In vielen seiner Bücher geht es thematisch um die unwürdigen Arbeitsbedingungen in den industrialisierten Städten, in denen Menschen in engen, dunklen Straßen lebten und ihr Leben von harter, körperlicher Arbeit geprägt war. So zeigt Frank William Brangwyn in „Unloading oranges at London Bridge“ im Gleichschritt marschierende Arbeiter, die Orangen schleppen. Der Blick des Betrachters ist auf die schleppenden Lastenträger gerichtet. Diese Lastenträger stehen für die vielen billigen namenlosen Lohnarbeiter, welche sich im Londoner Hafen verdingt haben. Die Orange steht für ein begehrtes Handelsgut, welches mit Dampfern nach Europa transportiert wurde. Die Orangen waren wertvoll und kostbar, während der Arbeiter jederzeit durch einen anderen Lastenträger ersetzt werden kann.

Der versierte Opernfan denkt bei den Hafenarbeitern, welche die Orangen verladen,vielleicht an die Oper „Il Tabarro“, zu Deutsch der Mantel, als Anfang des Triptychons von Puccini. Das vorletzte Musiktheaterwerk von Giacomo Puccini. „Il Trittico“, besteht aus „Il tabarro“, „Suor Angelica“ und „Gianni Schicchi“, drei Werke, die 1918 an der Metropolitan Opera in New York City uraufgeführt wurden.

Die tragische Handlung von „Il tabarro“ spielt auf einem Schleppkahn. Nur das dieser Kahn eben nicht am Londoner Hafen anliegt, sondern am Ufer der Seine. Der Schiffer Michelle liebt seine etwas jüngere Frau Giorgetta. Diese hat jedoch eine Affäre mit dem Löscharbeiter Luigi. Als der Schiffer die Affäre herausfindet, wird er zum Mörder an seinem Rivalen. Er wickelt den Körper des ermordeten in seinen Mantel – daher der Titel für die Oper – und zeigt ihn seiner Frau.

In einer Radierung wird der Arbeitsplatz eines Schmids z.B. in „The Smithy“, zu Deutsch die Schmiede, von Sir David Young Cameron gezeigt. Der Raum wirkt unaufgeräumt und beengt. Die Werkzeuge sind im Vordergrund nur angedeutet. Der Raum wirkt dunkel und wenig einladend. Die Radierung „The Mouth of the Mine“, auf Deutsch „der Mund der Mine“, von 1910 von Joseph Pennell zeigt den Ruhrpott bei Oberhausen. Diese Radierung kann dem Betrachter wie das Tor zur Hölle vorkommen. Der Mineneingang wirkt wie das Tor zur Unterwelt. Zu sehen ist dichter Rauch, der emporsteigt. Da es keine Alternativen zu diesem menschenfeindlichen Arbeitsplatz gibt, strömen die Arbeiter scharenweise dorthin. Um die Szene dramatischer wirken zu lassen, steigt dicker Qualm und Rauch auf, der das Szenario zusätzlich verdunkelt. Die Stahlkonstruktion der Förderanlagen ragt bedrohlich in die Höhe wie eben ein Mund. Nur ein kleines Stück klarer Himmel erinnert den Zuseher an bessere glücklichere Zeiten für die Arbeiter.

Der Abschnitt „Mensch“ demonstriert deutlich die veränderten Lebensbedingungen der Arbeiter durch die industrielle Revolution in England. Diese Veränderungen sind eindrucksvoll in den Radierungen dargestellt, die das harte Leben und die Herausforderungen der Arbeiterklasse in dieser Zeit widerspiegeln. Die Ausstellung bietet einen eindrucksvollen Kontrast zwischen der inszenierten Natürlichkeit und dem harten Leben der Arbeiter. Während die Naturdarstellungen eine idealisierte, harmonische Welt zeigen, spiegeln die Darstellungen des Arbeiterlebens die rauen und oft erbarmungslosen Realitäten der industriellen Ära wider. Dieser Kontrast verdeutlicht die Spannungen und Herausforderungen der Zeit, in der die Schönheit der Natur im starken Gegensatz zu den sozialen und wirtschaftlichen Problemen der Arbeiterklasse steht.

Die Ausstellung erzählt von einer Zeit des Umbruchs. Aus Naturlandschaften werden Industrielandschaften. Aus Motiven von schönen Kirchtürmen werden Fabrikschlote. Aus romantischen Wolken wird aufsteigender Rauch aus Industrieanlagen. Das Individuum wird zum anonymen Menschen, der eine stumpfsinnige, nicht erfüllende Arbeit macht. Charles Dickens‘ Einfluss auf die Radierungen ist unverkennbar. Seine Erzählungen, z.B. in seinem Roman „Schwere Zeiten“ über die sozialen Missstände und das harte Leben der Arbeiterklasse in England, spiegeln sich in den Darstellungen wider. Die Radierungen greifen Dickens‘ Themen auf und visualisieren die düsteren Lebensbedingungen und die gesellschaftlichen Herausforderungen der industriellen Revolution.

Im Vergleich zu den dargestellten Bedingungen der industriellen Revolution haben sich die Arbeitsbedingungen heute erheblich verbessert. Arbeitsschutzgesetze, geregelte Arbeitszeiten und soziale Sicherungssysteme tragen dazu bei, die Lebensqualität der Arbeiter zu erhöhen. Dennoch gibt es auch heute noch Herausforderungen, wie z.B. die Automatisierung und der Druck durch die Globalisierung, die neue Formen der Arbeitsbelastung mit sich bringen.

Die Ausstellung „Graphic Revival – Natur, Mensch, Industrie in England um 1900“ bietet einen tiefen Einblick in eine Zeit des Wandels und passt somit gut in unsere Gegenwart, die ebenfalls als Zeit mit großen Umwälzungen von vielen Menschen empfunden wird. Sie zeigt eindrucksvoll, wie Kunst die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche reflektiert und dokumentiert. Der Exzess der industriellen Revolution wird in seiner ganzen Tragweite sichtbar, von der Umweltzerstörung bis zu den sozialen Verwerfungen. Die Ausstellung regt dazu an, über die Entwicklungen der Vergangenheit nachzudenken und Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.

Wessen Interesse durch diesen Bericht an der Sonderausstellung „Graphic Revival“ im Landesmuseum Darmstadt geweckt worden ist, dem empfehle ich diese noch bis zum 13. Oktober 2024 zu besuchen.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Kulturbotschafter des UniWehrsEL

Der Text wurde unter zur Hilfenahme der offiziellen PDF-Datei zur Ausstellung verfasst.

https://www.hlmd.de/api/download/x/07499a4e41/2024_graphic-revival_small.pdf

Danke für das Bild von Ralf Vetterle auf Pixabay

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:3. Oktober 2024
  • Lesedauer:10 min Lesezeit