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Spätestens seit unserem Seminar “Storytelling” haben wir erkannt, wie vielschichtig und somit für unterschiedliche Gelegenheiten geeignet, Geschichten sind. Die Mediatorin Hanna Milling, die wir als Grundlagenliteratur nutzten, hat ihre Geschichten nach unterschiedlichen Bedeutungsebenen zusammengefasst und in inhalts- und themenbezogene Schlüsselworte wie beispielsweise “Perspektivwechsel”, “Loslassen” oder “Ressourcenaktivierung” eingeteilt.

Eva Paulus kommt ebenfalls aus dem pädagogischen Bereich, Sie hat schon häufiger Beiträge des UniWehrsEL kommentiert wie etwa im interessanten Beitrag “Der Mut zu Lebensrisiken“.

Heute überrascht sie uns mit einer selbst geschriebenen Geschichte, die dazu einlädt, sie nach Millings Schema zu interpretieren.

Herzlichen Dank an dieser Stelle, liebe Eva!

Petra

Petra schaute in den Spiegel. Was sie sah, war nichtssagend. Sie war weder jung noch alt, weder groß noch klein, auch nicht dick oder dünn, nicht hübsch und nicht hässlich, blond oder brünett. Kurzum: Für die Augen vieler Menschen war sie unsichtbar.
Zu ihrer Erscheinung passte ihre Tätigkeit. Sie war „Raumpflegerin mit Spezialisierung auf Bedürfnisanstalten im öffentlichen Raum“, Toilettenfrau an einer Gesamtschule, wie ihre Mutter es auf den Punkt brachte.

Mit alldem hatte Petra sich arrangiert, doch seit einiger Zeit störten Zwischenfälle an der Schule dieses Gleichgewicht. Immer wieder kam es vor, dass sie, wenn sie nach Unterrichtsschluss die Mädchentoiletten reinigte, hässliche Schmierereien auf den Wandspiegeln über den Waschbecken vorfand. Sie waren meist mit rotem Lippenstift aufgetragen worden und zu ihrem Entsetzen galten die Schmierereien eindeutig ihr. Dort stand neben dem bekannten Rolling-Stones-Logo ihr eigener Name, demütigend herabgewürdigt zu einem Spitznamen, wie ihn sich nur Schülerinnen ausdachten: Er lautete „KLOPETRA“.

Beim ersten Mal fiel es ihr noch leichter, die Schmiererei zu entfernen, obwohl es viel mehr Arbeit machte. Doch als sich die Vorfälle häuften, versuchte Petra, die Übeltäterinnen ausfindig zu machen. Sie war schließlich selbst auf diese Schule gegangen und kannte viele der Schülerinnen. Wie auch sonst hätten die Mädchen ihren Vornamen wissen und auf die Idee kommen können, sie zum Gespött zu machen. Aber die Mädchen waren ihr immer eine Nasenlänge voraus, wechselten die Tage oder den Toilettenraum, ließen auch mal einige Wochen verstreichen, bis sie wieder zuschlugen. Die Erwachsenen, Lehrer*innen, Hausmeister und weiteres Schulpersonal, bekamen die Schmierereien nicht zu sehen. Sie benutzten die für sie vorgesehenen Toiletten und vom gesamten Reinigungspersonal war nur sie für die Toiletten zuständig. So wurde sie nicht auf diese Zwischenfälle angesprochen und sie selbst konnte sich niemandem anvertrauen, zu groß war ihre Scham.
Eines Tages – ein Tag mit Schmiererei – fand Petra beim Wischen unter einem der Waschtische ein A. Jemand hatte es wohl bei einem hastigen Aufbruch verloren. Sie hob das A auf, warf es aber nicht wie gewohnt in den blauen Müllsack, der an ihrem Putzwagen hing. Das A schien wichtig zu sein, wichtig für sie. Sie steckte es in ihre Kittelschürze und nahm es nach der Arbeit mit nach Hause. Sie legte es zusammen mit ihrem Schlüsselbund und ihrer Tasche auf das Sideboard im Flur. Dort blieb das A erst einmal.

Petra machte sich Abendbrot, trank vor dem Fernseher ein Glas Holundersaft und ging nach der Sendung ins Bad. Im Schlafzimmer setzte sie sich aufs Bett und schaute auf ihre Pantoffeln, die mittlerweile ein wenig abgetragen aussahen. „Genau wie ich“, dachte sie schlüpfte aus den Pantoffeln und stellte sie neben ihr Nachttischchen. Sie schüttelte ihr Kopfkissen noch einmal auf, löschte das Licht, zog ihre müden Beine aufs Bett und ließ sich erleichtert ins Kissen sinken. Zuletzt zog sie die Decke bis unters Kinn.

Sie schlief – müde vom Einerlei des Tages – sofort ein. Obwohl sie nur selten träumte, tat sie es in dieser Nacht. Ihr Traum griff den Moment wieder auf, in dem sie das A gefunden hatte.
Doch anders als am Tag zuvor ließ sich das A diesmal nicht von ihr in die Kittelschürze stecken. Es entwischte ihr immer wieder und glitt im Raum umher auf der Suche nach einem Platz, an dem es bleiben wollte. Irgendwann gab Petra auf und wartete ab, wo sich das A niederlassen würde. Es drehte eine weitere Runde durch den Raum und steuerte dann – fast hätte Petra es geahnt – auf die roten Buchstaben ihres Spitznamens auf dem Spiegel zu.

Plötzlich stieg Ärger in Petra auf so heiß, dass es sie regelrecht schwindelig machte. Der Raum um sie her verlor seine festen Konturen und die Buchstaben auf dem Spiegel gerieten in Bewegung. Alles verschwamm vor ihren Augen. Petra musste sich auf den Boden sinken lassen, so durcheinander war sie. Dort blieb sie einige Zeit hocken, bis sich der Ärger legte. In dem Maße wie sie sich sammelte und ruhiger wurde, nahm der Raum wieder die vertraute Gestalt an. Auch die Buchstaben erschienen wieder auf dem Spiegel. Doch dadurch, dass das A hinzugekommen war, hatten sich die Buchstaben eine neue Ordnung gegeben. Es stand nun nicht mehr „KLOPETRA“ auf dem Spiegel. Petra blinzelte ungläubig. Was sie nun las war „KLEOPATRA“.

Im selben Moment ging der Wecker. Petra schreckte auf und da sie so unvermittelt aus ihrem Traum gerissen worden war, hielt sie ihn fest. Die Erinnerung an ihn begleitete sie von nun an und veränderte alles.

Erzählung von Eva Paulus

Ich bin gespannt, ob Sie sich darauf einlassen können und uns unter “Kontakt” im UniWehrsEL einen Kommentar zukommen lassen!

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:22. Juli 2022
  • Lesedauer:6 min Lesezeit