Eine Nacht unter Sternen ist in der Burg Dreieichenhain immer wieder ein besonderes Erlebnis. Gezeigt wurde vom NN Theater Köln „Peer Gynt“, das Werk des norwegischen Dichters Henrik Ibsen. Angeboten wurde dieses, auch als der „norwegische Faust“ berühmte Stück über einen armen Bauernsohn, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, unter der Rubrik „Familientag“. 1867 schrieb Henrik Ibsen dieses dramatische Gedicht. Berühmt wurde es auch durch die Schauspielmusik von Edvard Grieg, besonders „Morning Mood“ und „In der Halle des Bergkönigs“.
Wie kann man Peer Gynt kind- bzw. jugendgerecht bearbeiten und mit drei Schauspielerinnen, die in die ursprünglich gedachten 60 Rollen schlüpfen sollen, umsetzen?
Angekündigt wurde das Stück rund um den faulen, verspielten „Hochstapler“ Peer Gynt als einen Schwindler, der zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Fantasie und Fakten, pendelt. … Er entwirft Geschichten, wie die heutigen Stories für Instagram oder TikTok. Das „mehr Schein als Sein“ wird zunehmend ein Problem, denn nicht nur bei Peer Gynt verstricken sich immer mehr Menschen in ein Netz aus Lügen. Aus Schelmereien werden Schandtaten, aus Fiktion werden gefährliche Fake News. Zwischen Wahn und Wirklichkeit kann nicht mehr unterschieden werden. Bei Peer zeigt sich dies, wenn er sich im Reich der Trolle verirrt, Sklavenhändler wird, vor Gläubigern durch Wüsten flüchten muss und schließlich sogar in der Nervenheilanstalt endet. Alles nur ein Traum, Fiktion, die lebenslange Suche nach dem „Selbst“, der Wunsch, die eigene Identität zu finden? Die Frage, die man sich vielleicht ein Leben lang stellt: Wer bin ich eigentlich und wer möchte ich gerne sein?
Das NN Theater Köln wurde 1987 als reines Straßentheater gegründet. Gespielt wird, wo es Menschenversammlungen gibt, wie beispielsweise auf Marktplätzen. Eine kleine Schauspieltruppe mit viel Spielfreude, phantasievollen Lösungen für einfachen Bühnenaufbau, originellen Requisiten, witzigen Kostümen, die schnell gewechselt werden können. Dazu gehört Live-Musik und möglichst ein (Kinder-)Chor, Texte, die an Bekanntes anklingen, zum Mitsingen anregen, klangliche Bilder, die kindliches Staunen und emotionales Begreifen ermöglichen.
Quelle: https://nntheater.de/stuecke/peer-gynt/
In Dreieichenhain war die Kulisse durch die wunderbare natürliche Umgebung bereits gegeben. Einzige Requisite war eine hölzenerne Kugel mit vielen Bändern und Tüchern verkleidet und bei zunehmender Dunkelheit durch verschiedene Lichtquellen angestrahlt. In die Kugel stiegen die drei Schauspielerinnen ein und aus, bestiegen sie, hüllten sich mit den Bändern ein, dialogisierten gleichzeitig miteinander und zum Zuschauer gerichtet. Ein atemberaubender Kostümwechsel, im Zusammenspiel mit den verschiedenen Rollen. Da wurde die eben gestorbene Mutter plötzlich als Troll wieder lebendig, anschließend zum schrecklichen Berggeist. Phantastisch und wunderbar gespielt. Für Kinder, die den vielschichtigen Stoff vielleicht nicht kennen, eher – leider – unverständlich. Daher auch nach einiger Zeit leicht ermüdend, denn bei häufigen Rollenwechseln, dessen Sinn sich nicht erschließt, erlahmt irgendwann das Interesse. So ging es wohl auch einigen, der eher betagten, Zuschauern. Kinder hatten sich ersichtlich sowieso nur zwei zum Event aufgemacht.
Für musikalische Untermalung sorgte der lokale Dreieicher Projektchor: 25 Sängerinnen, in grüne wallende Gewänder gekleidet, die vermutlich den Wald darstellen sollten. Der Frauenchor der Musikschule Dreieich und der Chor Vielharmonie aus Frankfurt-Sachsenhausen wurden von Annika Dammel angeleitet, Teil der „Peer Gynt“-Inszenierung des NN Theaters Köln zu sein. Sie hatten von Bernd Kaftan, dem Pianisten, Chorleiter und das Stück begleitenden Keyborder für alle Lieder Aufnahmen bekommen, damit sie sich in diese schon zu Hause einhören konnten.
Wer nun allerdings auf die von Fernsehen oder Film bekannte Flötenmelodie aus der „Morgenstimmung“ (dies hörten wir auch im Rahmen des Interdisziplinären Gesprächs „gehört „Wohin mit meiner Wut?“) von Grieg wartete oder gar sich „in die Höhle des Bergkönigs“ versetzen lassen wollte, der konnte dies aus der dargebotenen – durchaus kreativen – musikalischen Eigengestaltung schwerlich heraushören.
Ursprünglich als Bühnenwerk zur Vertonung des Gedichts „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen konzipiert, komponierte Grieg dieses Werk ab 1888 in eine Orchestersuite um, um es auch außerhalb Norwegens unter Verzicht der Dialoge bekannt zu machen. Heute findet man es auf allen Spielplänen von Konzerthäusern. Seinen Siegeszug hat es auch in der kommerziellen Vermarktung vollbracht und ist „Folterohrwurm“ beispielsweise in „Orange ist the New Black“, „How I met your mother“, „Simpsons“, „Dr. House“, „Mad Men“ und weiteren.
„Peer Gynt“ immer wieder neu interpretierbar
Peer Gynt ist ein zeitloses Meisterwerk. Seine Handlung ist so vielschichtig und darum auch immer wieder neu interpretierbar. Ob nun als Staßen-Rollenspiel wie beim NN Theater, oder auch in Edward Clugs Adaption am Staatstheater Hannover. Dort wird die Geschichte zu einem modernen Handlungsballett, das die Zuschauer:innen in eine mystische Welt entführt. Musik, Erzählung, Tanz und die wunderbaren Peer-Gynt-Suiten werden zu einem Gesamtkunstwerk miteinander verbunden.
Auch als Rockmusical tritt es seit 2023 seinen Triumphzug an. »Der „Faust des Nordens“ von Henrik Ibsen in der Übersetzung von Christian Morgenstern wird hier in einer rockigen Version mit Musik von u.a. Radiohead, Kygo, Lady Gaga und Ed Sheeran auf die Bühne gebracht. Die ambivalenten Gefühle und fantastischen Erlebnisse der Protagonisten werden in den Songs emotional widergespiegelt. Selbst die klassische Bühnenmusik von Eduard Grieg wird für die Rockband neu arrangiert und kommt leitmotivisch zur Anwendung. So wird der nordische Klassiker erneut attraktiv für Jung und Alt!«
Wahn, Wunder, Wow-Effekt, was uns staunen lässt
Peer Gynt ist beispielhaft überall vertreten. Staunen lässt uns, was der Regisseur Martin G. Berger über „Peer Gynt“ – als Musical, der Figur psychologisch interpretiert zugrunde legt. Wie so oft ist das Verhältnis zu Eltern, besonders die „Mutter-Sohn“, „Eltern-Kind“-Konstellation von Bedeutung.
Berger konstatiert, wie entscheidend das Verhältnis von Peer Gynt zu seinen Eltern sei und darum auch bedeutend für die Inszenierung. „Sein reicher Vater hat sich zu Tode gesoffen, die Mutter ist alleine. Für mich war der Ansatzpunkt, dass Peer Gynt eigentlich aus ärmlicheren Verhältnissen kommt“. Und kommt darüber zu der Erkenntnis, der grundsätzlichen Vertrauensstörungen, die zu ständiger Aufschneiderei und Lügengeschichten führen könne. „Peer Gynt als Coming-of-age Geschichte, eine Pubertätsgeschichte in den ersten drei Akten, wo jemand gegen Widerstände rennt und versucht, sich zu finden. Im vierten Akt ist es ein Erwachsenenleben und im fünften ist es eine Reflexion über die anderen Akte.“
Im Kern liege hier die „Verwahrlosung“, meint Berger, „eine fehlende Beziehung, eine fehlende Herzensbildung im Elternhaus, in der Beziehung zur Mutter, die sich auf eine ganz rührende Weise am Ende des dritten Aktes nur einmal auflöst, wenn er sie zum Sterben begleitet und ihr nochmal eine Phantasie bietet, die ja auch wieder, wenn man genau liest in der ein bisschen verschwurbelten Sprache des 19. Jahrhunderts, einfach nur lautet: Du hast mal ein schickes Kleid an und bist mit C-Promis im Schloss auf der VIP-Party.“
Wahn, Wunder, Wow-Effekt heißt unser Seminar im Wintersemester 24_25 und lädt zum Staunen ein. Dieses Thema ist genauso vielfältig, wie das Stück des „Peer Gynt“ und enthält zahllose Aspekte, die zur näheren Interpretation einladen. Einer wäre der, der zur vollendeten Täuschung hinführt. Nicht nur Peer flunkert vor, er sei ein Prinz, der größte Liebhaber oder im wahrsten Sinne „Überflieger“. Zahlreiche Beispiele aus Literatur oder öffentlichen Medien verwundern uns, ob ihrer erstaunlichen Kunst, andere perfekt zu täuschen.
Des sogenannten „Hochstabler-Syndroms“ („Impostor-Syndrom„) nimmt sich „orf.de“ an und fragt danach: Wer kennt nicht den „talentierten Mister Ripley“ oder den smarten Aufsteiger „Felix Krull“. „Netflix attestierte seiner Nachfolgerin, der vermeintlichen High Society Diva Anna Sorokin, Serientauglichkeit. Andere schreiben statt falscher Schecks frei fabulierte Geschichten und nennen sie Reportagen. Das erfuhr das deutsche Magazin Spiegel 2018 mit seinem Star-Schreiber Claas Relotius (über ihn schreibt Nicola Gess in Halbwahrheiten“). Der Hochstapler, die Hochstaplerin ist nichts ohne das geneigte Publikum, das kann in der Chefredaktion oder in der New Yorker Austernbar sitzen und applaudieren. Ist die Karriere einmal perdu, das Tarnen vorbei – im Mittelalter durch Hinrichtung, aber das ist eine andere Geschichte – bleibt Enttäuschung, gesellschaftliche Ablehnung. Und Faszination für die Geschichten vom ergaunerten Erfolg. Wie konnte sie, wie traute er sich das, wie hielten sie diesen Seiltanz dort oben aus, Tag für Tag?“
Das wären dann letztlich auch die Fragen, die man an und über „Peer Gynt“ stellen möchte. Auf Ihre Meinung darüber ist das UniWehrsEL sehr gespannt!
Quelle: Foto Dr. Elke Wehrs, Burgfestspiele Dreieich 15.08.24