Früher wurde Demenz in der Fachliteratur als unumkehrbarer hirnorganischer Abbauprozess verstanden, der nur medikamentös behandelbar ist. Heute rückt der ganze Mensch mit seiner ’verlorenen’ Biographie, seiner durch die Krankheit bedingten Abhängigkeit und Angst, das Personsein zu verlieren, in den Fokus. Der Verlust des Verstandes (dementia oder de mente = ohne Geist) wird nicht mehr gleichbedeutend mit dem Verlust der eigenen Person gesetzt, weil ein rein kognitiver Personenbegriff der Demenzerkrankung nicht gerecht wird. Schon im Wintersemester 2009_10 interessierte uns dieser Themenbereich an der U3L. Auch 2024 gibt es neue „Identitätserhaltende Konzepte“ für Menschen mit Hirnleistungsstörungen. Die Forschung und Projektentwicklung hat den Hintergrund der Vermittlung und Aneignung ästhetischer Bildungsprozesse durch Kunst. Das Frankfurter Städel bietet dazu das Programm „Artemis Digital“.
Schon 2005 fragte ich mich in meiner Forschungsarbeit „Verstehen an der Grenze. Erinnerungsverlust und Selbsterhaltung bei Menschen mit primären und sekundären Demenzen“ nach der Wirkung von Musik-, Kunst- und Bewegungstherapie. Meine Forschungsfrage dazu lautete:
Ist es möglich, durch das freie Malen (Interaktives Musizieren, ‚Embodiment‘) Erinnerungen und Erfahrungen anzuregen, die dem Erkrankten helfen können, sich im Hier und Jetzt erträglicher zu fühlen?
Die Teilnahme im Alltag und bei Kunst- und Musiktherapien in Tagesstätten für Menschen mit sekundären (nach Schlaganfall, Herzinfarkt etc.) und primären Demenzen (Hirnleistungsstörungen bei der Krankheit Alzheimer) erlaubte mir Forschungsergebnisse, um „Zugang zu den inneren Bildern“ zu finden.
Kurz zusammengefasst: Wenn Menschen mit sekundären Demenzen malen, reflektieren sie über ihre traumatischen Erfahrungen und Erinnerungen und betrachten sie aus ihrer heutigen Sichtweise neu.
Auch bei Menschen mit primären Demenzen (Alzheimer-Krankheit) zeigt sich Staunen, Freude und ein besonderer Überraschungsmoment, der teilweise sogar verbalisiert wird: „Es macht Freude“ oder „Das ich das noch kann“. Der Artikel kann in „Forschung Frankfurt“ nachgelesen werden.
‚Allmachtsfantasien‘ – freies Malen mit einem Schlaganfallpatienten im Tagespflegeheim Foto:
Im Kontext dessen las ich mit großem Interesse in der Fachzeitschrift „Krankenhaus-IT Journal,“ von der seit fast zehn Jahren bestehenden Möglichkeit, der Ästhetischen Bildungserfahrungen im Städel Frankfurt. Menschen mit Demenzen konnten gemeinsam mit ihren Angehörigen das Städel Museum besuchen und am Führungs- und Workshop-Programm ARTEMIS (ART Encounters: Museum Intervention Study) teilnehmen. Wissenschaftlich begleitet wurde ARTEMIS vom Arbeitsbereich Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, die ebenfalls zu der Erkenntnis kam, wie wirkungsmächtig Kunst und Kreativität sich auf das emotionale Wohlbefinden und die Lebensqualität dementiell Veränderter auswirkt.
Nun ist es unter Umständen schwierig ins Städel nach Frankfurt zu kommen, um an solcher Art der Programme teilnehmen zu können. Ein neu entwickeltes digitales Angebot – ARTEMIS Digital – nutzt die positiven Forschungsergebnisse zu Ästhetischen Erfahrungen und Bildungsprozessen und lädt zu einer digitalen Weiterführung ein. Für eine sechsmonatige Erprobung und Evaluierung werden nun interessierte Betroffene und ihre Angehörigen gesucht. Teilnehmen können Menschen mit ärztlich gesicherter Demenzdiagnose (von leicht bis mittelschwer) und deren Betreuungsperson.
Nachzulesen ist: „Das kostenlose Angebot besteht aus vier Modulen: (1) Familie und Gemeinschaft, (2) Stillleben, (3) das menschliche Gesicht und (4) die Farbe Blau in der Kunst. Anhand dieser Themen ermöglicht die webbasierte Anwendung eine Erkundung der Meisterwerke in Frankfurts berühmtem Kunstmuseum. Sie schafft einen interaktiven Zugang zur Kunst unabhängig von Ort und Zeit. Die digitalen Workshops bieten die Gelegenheit, zum Beispiel im häuslichen Umfeld in Eigenregie unterschiedliche künstlerische Techniken kennenzulernen und neue, die Sinne stimulierende Erfahrungen zu machen. ARTEMIS Digital ist auf dem Smartphone, Tablet oder am PC aufrufbar und einfach zu bedienen. Das Projekt wird gefördert durch die Familie Schambach-Stiftung aus Frankfurt am Main.“
Die Studie beginnt im August 2024. Näheres zu Artemis Digital, dem digitalen Angebot und der Studie für Menschen mit Demenz kann man der webseite des Städel Museums entnehmen.