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Immer wieder bin ich begeistert von den zahlreichen Talenten meiner Studierenden. Besonders freue ich mich darüber, wenn sie mir ihr Vertrauen schenken und mich an einem Teil ihres Lebens teilhaben lassen.

So geschehen bei Maria Pohlen, die uns diesen Beitrag und darüber hinaus zwei Beispiele ihrer künstlerischen Werke für unser UniWehrsEL zur Verfügung gestellt hat.

Vielen herzlichen Dank, liebe Frau Pohlen!

Künstlerische Praxis

Zeichnen von Linien
Schnitt/Zeichnungen

Zeichnen kann wie Schreiben beginnen. Ein erstes Wort – eine Linie. Wo will das Wort hin, wo will die Linie hin? Die Linie findet ein Feld vor, einen sichtbaren Grund, auf dem sie sich bewegt. Ein Feld, egal wie groß es sein mag – es ist begrenzt. Wird die Linie damit auskommen?

Das zeigt sich beim Ausschreiten bis an den Rand des Feldes. Die rote Farbe hebt sich deutlich ab, macht das Feld zum Untergrund, die Linie verortet sich, wird zur Spur. Die erste Spur sucht nach einem Mit-Läufer. Es entstehen Parallelen, eine Linie spiegelt die kommende. Zeilen unter- und übereinander. Horizonte.

Das Feld will auch in der Vertikalen ausgemessen werden. Kreuzungen entstehen. Im Verlauf zeigt sich, daß die Längs- und Querlinien und die Diagonalen den Untergrund kartographieren. Gitter entstehen. Linien ziehen ist also, der ersten Linie zutrauen, daß sie sich zu einem Netzwerk erweitern könnte. Mit der Zeit werden dieses komplex.

Die Tatsache, daß es allüberall Begrenzung gibt ist zwar bekannt. Dennoch sucht die Zeichnung einen Weg in eine nächsten Dimension. Würde ich immer weiter auf einem Blatt noch mehr Linien ziehen, entstünde letztendlich eine Verdichtung, eine Fläche, der nichts mehr hinzuzufügen wäre. Ein Problem.

Ein Gedichttitel von Paul Celan kommt mir zur Hilfe: “Sprachgitter”. Ein Gitter erlaubt Durchblick in die Tiefe. Die Ölkreide, mit der ich die roten Linien zog, tausche ich gegen ein Skalpell. Mit gleichmäßigem Druck zieht es Furchen entlang der Linien, tief genug, daß ein Ausschnitt herausfällt. Jeder Schnitt orientiert sich an der vorhandenen Linie, läßt ihr einmal mehr Raum, so daß sie fast zum Balken wird, ein anderes Mal weniger, als spielte er riskant mit der Linie. Eine Linie bietet immer die Möglichkeit des Widerrufs, ein Schnitt ist das Gegenteil. Er ist unwiderruflich, irreversibel. Der Verlust an Fläche verwandelt sich in den Gewinn eines Durchblicks, eines neuen Freiraums. Es zeigt sich: Leere ist zugleich Fülle.

Die nun so geschnittenen Zeichnungen verlangen nach einer weiteren Dimension. Sie liegen vor mir, über Wochen angesammelt. Das sind Stapel. Ich versuche, das Stapeln bewußt zu komponieren. Schiebe und rücke die Zeichnungen zusammen, lege Schichten übereinander, die ganz neue Ein- und Ausblicke erlauben. Endlich ist Vielschichtigkeit und Tiefe erreicht und die Linien werden zu überraschenden Räumen, werden zu Beziehungen und Verflechtungen, zum Gespräch in jede Richtung.

Maria Pohlen 2022
  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:26. August 2022
  • Lesedauer:4 min Lesezeit