Im Seminar „Staunen“ legten wir in der letzten Stunde unseren Fokus auf die Ausstellung “Körperwelten“. Nicht zuletzt dadurch begründet, durch den Philosophen Franz-Josef Wetz, der seine ethische Position zu dieser europaweiten umstrittenen, aber meistbesuchten Ausstellung im Band „Schöne neue Körperwelten. Der Streit um die Ausstellung“ darlegt. Diese ethischen Betrachtungen regen zu weiterführenden Diskussionen an. Sie werden in einem Leserbrief dargestellt, einerseits durch eigene Erfahrungen zu „Körperwelten“, andererseits durch Kommentare zu anderen öffentlich kontrovers diskutierten Kampagnen. Dazu ein herzliches Dankeschön!
Liebe UniWehrsEL-Leser,
in den 2000er Jahren war die Ausstellung „Körperwelten“ von Gunther von Hagen, realisiert von seiner Frau Anglina Whalley, ein hochumstrittenes Thema.
- Dürfen Tote überhaupt im Rahmen einer Ausstellung gezeigt werden?
- Verstößt das nicht gegen Artikel 1 GG, die Menschenwürde?
- Ist die Ausstellung ein Zeichen von einer fortschreitenden Verrohung der Gesellschaft?
- Haben die Event-getriebenen Partypeople nicht einmal mehr Respekt vor der Totenruhe, die seit Jahrtausenden als „heilig“ galt im gesellschaftlichen Konsens?
- Ist die Gesellschaft am Durchdrehen, nachdem sie den “Big Brother“ in Form einer TV-Show in die Wohnzimmer der Deutschen gelassen hat?
- Ist “Big Brother“ sozusagen der ‚Sündenfall‘ in Bezug auf Datenschutz?
- Sorgt das Fernsehen mit Shows wie Big Brother für eine kollektive Verblödung?
Ich erinnere mich noch genau an solche Schlagzeilen in der Presse über die Ausstellung “Körperwelten“, und dass es für einen Teil der Gesellschaft zum guten Ton gehört hat, sein Entsetzen über diese Verrohung der Sitten auszudrücken. Da half auch ein kunsthistorischer Vergleich mit dem ehrenwerten Maler Rembrandt wenig, die „gefühlte Empörung“ abzudämpfen. Hatte Rembrandt nicht ebenfalls in seinem berühmten Gemälde „Die Anatomiestunde des Dr. Nicolaes Tulp“ einen realistischen Einblick auf den Körper gegeben? Und das lange bevor ein Gunther von Hagen mit seiner Ausstellung durch die deutschen Lande auf Tour ging?

Das Gemälde ist bereits 1632 entstanden und hängt für jedermann sichtbar im Mauritshuis in Den Haag und wirft die Fragen auf:.
- Gab es nicht schon zu Rembrandts Zeiten Diskussionen über die Beschaffung von Leichen?
- Sollten Menschen nicht viel lieber idealisiert auf Gemälden dargestellt werden, als in einer Abbildung, welche der Realität nahekommt?
- Wer hat eigentlich das Recht am Bild von Toten?
- Müssen diese, wie es sich kirchliche Einrichtungen wünschen, immer „in Würde“ dargestellt werden?
- Wer definiert diese Würde der Toten?
- Gibt es eine Regel, die Menschen nur in Schönheit abzubilden?
- Hieße dies, die realistische Seite des Menschen auszublenden?
- Ist der Mensch nicht in jeder Situation auf seine Weise schön?
- Ist altes, hässliches oder verwirrtes Aussehen im Bild nicht eine menschliche Zuschreibung?
- Bildet ein Bildnis also nicht die Wahrheit ab?
Erinnern wir uns an die sogenannte „Schockwerbung“ der Bekleidungsmarke „Benetton“, die ebenfalls zu heftigen Diskussionen anregte. An diese Pressestimmung musste ich denken, als die Tagesschau am 13.01.2025 über den Tod des 82 Jahre alten Fotografen berichtete. Diese Berichte zeigten Parallelitäten zur Berichterstattung der Ausstellung über “Körperwelten“.
Bei dem Fotografen Oliviero Toscanini und einem besonders umstrittenen Foto ging es um den menschlichen Körper, wie bei Hagen. Es zeigte Aidskranke. Ein anderer „Schocker“ war das Besteigen eines schwarzen Hengstes auf eine weiße Stute. Die Fotos von Oliverio Toscanini zeigten keine „heile Welt“ wie man sie aus sonstigen Werbekampagnen der Modeindustrie kannte, sondern eine hässliche Seite. Der berühmte Werbekunde war die italienische Modemarke Benetton, die heute weltweite Bekanntheit verloren hat.
Wohl gemerkt gab es zur Zeit der Diskussion in den 2000ern bereits das sogenannte „schnelle“ Internet, indem schon damals nach „Nacktbildern von Stars wie Pamela Anderson“ mehr gesucht wurde, als nach seriösen Seiten wie dem Firmenauftritt von BMW. Schon damals verstand es die Suchmaschine google.de, spektakuläre Themen wie die Ausstellung Körperwelten, die Nacktfotos von Pam Anderson oder die Fotos von Benetton leicht auffindbar zu machen. Schon damals stellte sich also die Frage, wie neutral ist eine Suchmaschine wie Google wirklich? Ist doch der Algorithmus von Google ein wohlgehütetes Geschäftsgeheimnis. Nicht umsonst hatte Google sich 2001 den Firmenslogan verpasst: „Don´t be evil“, zu Deutsch Sei nicht böse. Damit war gemeint, dass Google sich als ein „neutraler Vermittler von Informationen verstand und nicht selbst böse Inhalte in die Welt setze.
Böse Kritiker meinten, der Slogan würde dazu beitragen zu verharmlosen, dass Google einen Marktanteil von 90 % bei dem Einsatz von Suchmaschinen in 2001 erreichte. Die UniWehrsEL-Leser sollten sich selbstkritisch die Frage stellen, ob sie schon mal von der deutschen Suchmaschine “MetaGer“ gehört und diese auch benutzt haben. Diese ist eine Suchmaschine, die ohne Werbeanzeigen finanziert ist, über einen gemeinnützigen Verein.
In 2000 erging das sogenannte „Benetton I Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts gegen die Schockwerbung des italienischen Herstellers. Dieses Urteil sorgte dafür, dass es eine rege Berichterstattung über die Kampagne von Benetton gab. Kritiker dieser Werbung betonten, dass es der Firma nicht um das Abbilden von sozialen Problemen ginge, sondern darum, Aufmerksamkeit für die Modemarke “Benetton“ zu erregen, um die Verkäufe von Polo-Shirts anzukurbeln. Diese fühlten sich benachteiligt durch das Urteil, welches ein Werbeverbot in Deutschland für diese Schockwerbung bedeutete. Andere sahen die Kunstfreiheit eingeschränkt und sahen die Werbung von Benetton als Aufklärung in einer hässlichen Welt. Schließlich könne man die Hässlichkeit und die Schattenseiten der Welt nicht einfach ausblenden. Manche Kritiker, die ein Werbeverbot gegen Benetton für falsch hielten, verwiesen auf eine Doppelmoral in der Werbung.

Denn mit Schockfotos auf Zigarettenpackungen versucht man, ab 2016 Jugendliche vom Rauchen abzuhalten. Doch bringen solche Schockbilder auf Zigarettenpackungen wirklich Menschen dazu, sich es nochmal anders zu überlegen und keine Zigaretten zu kaufen? Gelingt es einer solche Kampagne mit Schockfotos das Konsumverhalten von potentiellen Zigarettenkäufern im Sinne des Gesundheitsschutzes positiv zu beeinflussen? Bei den Schockfotos, welche auf Zigaretten aufgedruckt werden, wenden Kritiker ein, dies sei eine Einschränkung des Konsumenten. Ein gut informierter Käufer könne durch selbstbestimmtes Handeln selber entscheiden, ob er eine Zigarette kaufen wolle oder nicht. Es wird bei dieser Argumentation auf den mündigen Verbraucher verwiesen.Wissentlich übersehen wird bei dieser Gedankenkette das hohe Suchtpotential von Zigarettenrauchern, und dass der Käufer von der Zigarette abhängig sein könnte. Doch überträgt der UniWehrsEL-Leser diese Argumentation bitte einmal auf das „Benetton-Urteil“.
Sicher kann der Käufer von Benetton Kleidern als mündiger Verbraucher selbst entscheiden, ob er ein Unternehmen mit dem Kauf seiner Produkte unterstützen will, welches eine solche Kampagne über soziale Themen wie Aidskranke, eine ölverschmierte Ente auf die Plakatwände der deutschen Innenstädte bringt, oder ob er sich mit Grausen von der Marke abwendet. Selbiges gilt auch für den Käufer eines Tickets für die Ausstellung “Körperwelten“. Sind Fotos von Aidskranken im Endstadion wirklich so viel schlimmer als Fotos von Menschen, denen die Zähne ausfallen, aufgrund von starkem Rauchen?
Soll Mode nicht das eigene Selbstwertgefühl steigern und die eigene Individualität betonen? 2022 sorgte die Luxusmarke “Balenciaga“ mit einer Werbestrategie für Aufsehen, die den Rezensenten an die „Benetton Modekampagne“ erinnerte. Diese sorgte für eine Empörung bei konservativ eingestellten Käufern von Mode. “Balenciaga“ zeigte in seiner Werbekampagne Kinder, die mit Bodage-Kuscheltieren posieren. Die Bilder zeigen Kleinkinder, die Bären in BDSM-Geschirren (samt Fußfesseln, Metall-Halsbändern und Leder-Brustgurten) in den Händen halten. Eine Kampagne widmete sich zudem einem Auszug eines Gerichtsurteils über Kinderpornografie. Auf sozialen Kanälen sorgt nicht zuletzt das für viel Unmut.
In einer Frühjahrs-Sommerkollektion waren originale Gerichtsdokumente des US Supreme Courts zum Thema „virtueller“ Kinderpornografie zu sehen. Wie bei den Toscanini Fotos wurde also Mode mit einem kontroversen Thema verknüpft, um Aufmerksamkeit für die Marke “Balenciaga“ zu schaffen. Dies zeigt auch 22 Jahre nach dem Benetton Urteil; Provokation ist noch Teil des Geschäfts in der Modewelt. Dass Kinderpornografie ein hochemotionales und ein Tabuthema ist, sollte auch den Verantwortlichen des spanisch-französischen Modehauses klargewesen sein.
Die Kritik an der Kampagne war vermutlich mit ähnlichen Fragestellungen geführt worden wie die Eingangsfrage des Artikels: Dürfen Tote überhaut im Rahmen einer Ausstellung gezeigt werden? Tauschen wir das Wort ‚die Toten‘ durch das Wort ‚die Kinder‘ und das Wort ‚Ausstellung‘ gegen ‚Bondage-Bären‘ aus. So lautet nun die Schlagzeile „Dürfen Kinder mit Bondage-Bären gezeigt werden? Anders als bei Körperwelten reagierte Balenciaga auf die Kritik, die Werbung sei „geschmacklos“, indem sie sich selbst zensierte und die Fotos alle löschte. Aufmerksamkeit hat die Kampagne dennoch erreicht, für wen außer teuren Luxusfans und Lesern der deutschen Ausgabe der “Cosmopolitan“, die monatliche Trends an modebewusste Menschen herausgibt, war die Marke “Balenciaga“ vorher ein Begriff?
Die Themen “Körperwelten“, Oliverio Toscanini und seine Schockwerbung, bewusst abstoßende Zigarettenwerbung, die verfehlte Werbekampagne des Luxuslabes “Balenciaga“ zeigen, wie kontrovers es beim Staunen zugehen kann. Hinter dem Begriff „Staunen“ verbirgt sich auch das Erleben von unerwarteten Wendungen und die Neugier. Diese unerwarteten Wendungen werden von Ausstellungen wie Körperwelten, den Fotos von Toscanini, dem Gesetzgeber gegen Zigaretten, Balenciaga aufgegriffen und in einem unerwarteten Kontext neu dargestellt. Dazu wird der Tabubruch bewusst gewählt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Denn schließlich ist auch schlechte Werbung Aufmerksamkeit, und Dinge, denen Menschen Aufmerksamkeit schenken, bleiben im öffentlichen Diskurs relevant. Das hat das Unternehmen “Benetton“ schmerzlich erfahren. Es gibt noch Onlineshops der Marke, aber von seinem internationalen Ruf, den das Unternehmen in den 1990ern bzw. Anfang der 2000er Jahren hatte, ist wenig geblieben.
Anders die “Körperwelten“, die man 2025 in München in der kleinen Olympiahalle betrachten kann. Die Ausstellung wurde von mir damals in Mainz besucht. Entgegen der hitzig-geführten Diskussion über die Körperwelten-Ausstellung empfand ich diese Ausstellung in Live, offen gestanden, weit weniger spektakulär, als ich durch die vorher geführte Diskussion hoffen durfte. Die in der Presse vielzierten plastinierten „Kartenspieler“ waren weit weniger spannend vor Ort, als es die Berichterstattung mir suggerierte. Besonders effekthaschend war ein Ausstellungsstück mit dem Titel „Der schwebende Akt“. Es zeigte ein plastiniertes Liebespaar beim Geschlechtsakt und sorgte 2001 für einen medienwirksamen Skandal. An dieses, in der Presse für Empörung und Wut sorgende Objekt, kann ich mich überhaupt nicht mehr in Mainz erinnern. So erinnert mich der medial-erzeugte Hype um die Körperwelten-Ausstellung an ein Lied von Friedrich Holländer „Alles Schwindel, alles Schwindel, überall wohin du kuckst und wohin du spuckst!“. An den als teuer empfundenen Eintrittspreis und keinen für mich messbaren Lerneffekt kann ich mich ebenfalls noch heute in der Retrospektive zu diesem Artikel erinnern.
Haben Sie ähnliche Erinnerungen an die Ausstellung Körperwelten? Tragen sie bis heute mit Stolz die „United Colors of Benetton“, zu Deutsch „Alle Farben dieser Welt“ oder haben Sie die Sachen längst in den Müllsack gegeben? Finden Sie die abstoßenden Schockbilder auf Tabakwaren eine gelungene Abschreckung gegen das Rauchen? Dann teilen Sie ihre Meinung dem Blog unter kontakt/ mit.
Mit freundlichen Grüßen
I. Burn
Danke für Image by Christian Volek from Pixabay