You are currently viewing “Der Traumgörge” – vom Anderssein

Mit dem Thema des Flanierens durch den Märchenwald sind wir im Moment hoch aktuell. So stellt auch die Oper Frankfurt unter anderem die große Frage, ob denn Märchenwelten, die lebendig werden, mehr Utopie oder Alptraum bedeuten. Dies knüpft an eine Oper von Alexander Zemlinsky „Der Traumgörge“ (1871-1942) an, die im März 2024 Premiere in Frankfurt hatte. Wir freuen uns über den Bericht des Kulturbotschafters des UniWehrsEL dazu und bedanken uns herzlich!

Liebes UniWehrsEL,

Alexander Zemlinsky ist bekannt durch seine Liebe zu Alma Mahler. Vielleicht weniger bekannt ist die Oper “Der Traumgörge”, von Alexander Zemlinsky, die er bereits 1906 komponierte. Sie war lange verschollen und wurde erst 1980 uraufgeführt an der Oper Nürnberg.

Görge ist ein Mann. Die Oper heißt der Traumgörge, weil er sich in eine andere Zeit mithilfe des Lesens versetzt. Görge ist ein verwaister Pfarrersohn. Er verbringt seine Zeit mit Lesen. Der Müller hat Görge seine Mühle vermacht, weil Görge ihn früher mit Märchen aus Büchern bei der Arbeit unterhalten hat. Der alte Müller ist gestorben. Görge ist noch nicht volljährig. Sein neuer Vormund plant Görge mit seiner Tochter Grete zu verheiraten. Zu Grete passt der märchenerzählende Görge nicht. Am Tag der Verlobung kehrt Hans, Gretes früher Geliebter, aus dem Krieg heim und hält um Gretes Hand an. Als Hans erkennt, dass Görge sein Rivale ist, macht er sich über ihn lustig, weil dieser Bücher liest.

Görge flieht vor der körperlichen Auseinandersetzung mit Hans zum Bach. Dort schläft er ein und trifft die Prinzessin aus seinem Märchenbuch. Die Prinzessin ermutigt ihn, seinen eigenen Weg zu suchen. Das Glockenläuten weckt Görge. Er beschließt sein Dorf zu verlassen und seinen Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Görges Plan, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist gescheitert. Das hat Görge verändert. Er ist zum verwahrlosten Säufer geworden und lebt in einem anderen Dorf. Nur Gertraud versteht Görge. Sie ist selbst eine Außenseiterin. Sie wird von den Dorfbewohnern der Hexerei und Brandstiftung bezichtigt. 

Es gibt einen Bauernaufstand und die Dörfler wollen den redegewandten Görge zu ihrem Anführer machen. Er ist geschmeichelt von der unerwarteten Anerkennung. Als Bedingung für das neue Leben soll er aber den Kontakt mit Gertraud der Hexe abbrechen. Diese Bedingung kann Görge nicht akzeptieren und nimmt Gertraud in Schutz. Deshalb wird er aus der Dorfgemeinschaft verstoßen. Beide werden fast als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil die Dorfbewohner seine Märchenbücher für Hexenwerk halten.

Unerwarteter Weise hat die Oper ein Happy End für Görge und seine Gertraud. Sie kehren in sein Heimatdorf zurück, wo er doch noch Müller wird und eine Schule für Gertraud gründet. Dank der Schule geht es dem Dorf insgesamt besser. Die Kinder lernen nun Märchen kennen und lesen. Görge wird klar, dass Gertraud seine Prinzessin ist, die er sich damals am Bach erträumt hat.

Es geht in dem Stück ums Anderssein. Den Einzelnen, der nicht in seine Umgebung passt und seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Einen Außenseiter haben wir schon einmal vorgestellt. Es war Peter Grimes. Dieser Außenseiter steht einer Welt gegenüber, die immer absurdere Züge annimmt. Er lebt in surrealen Zusammenhängen, aber manchmal bricht die Realität unbarmherzig über den Andersartigen herein. Wie weit kann sich der Einzelne aus der Welt zurückziehen? Wo findet er seinen Ausweg?

Görge wählt seine Flucht aus einer Welt, die ihm nicht gefällt, durch Bücher. Genauer gesagt durch Märchen. Diese Märchen verfolgen ihn in seine Träume hinein. So auch die Musik. Das Märchenbuch ist sein Ausweg aus einer bedrückenden Realität in eine Scheinwelt. Im ersten Akt bricht er so die reale Flucht aus seiner Umgebung an. Görge erinnert mich an Peter Pan. Also verhält sich Görge wie ein Kind, das nicht erwachsen werden will. Warum will Görge nicht erwachsen werden? Weil Erwachsen-Werden in seiner ihn umgebenen Welt bedeutet, das Aufgeben aller Träume, eine Anpassung an die Gesellschaft. Diese Dorfgesellschaft ist roh und tumb. Sie ist phantasielos und grau. 

Die Oper erzählt von den Zwängen, mit der ein Erwachsener in der Realität des Lebens umgehen muss. Was passiert mit einem Menschen, der sich nicht in seine Umgebung anpassen kann und will? Denn seine Interessen sind zu ‚eigenbrötlerisch‘. Wie kann dieser Mensch überleben in einer Gesellschaft die sein Anderssein nicht akzeptiert? Eine Gesellschaft die von ihm erwartet, ein angepasstes Mitglied zu sein?

Für Görge sind seine Träume ein Schutzraum. Die Realitätsflucht ist auch eine Flucht vor der eigenen Vergangenheit. Die Träumereien sind die eigene Utopie einer besseren eigenen Zukunft. Die Traumwelt ist aber auch sehr gefährlich für Görge. Denn die Traumwelt ist eine narzisstische Selbstschau. Wir haben diese schon im Stück “Der Sandmann” besprochen. Ein Blick in das eigene Spiegelbild.

Kurz vor der Entstehung des Librettos von Leo Feld, der seine Inspirationen von den Romanzen Der arme Peter von Heinrich Heine und dem Märchen Vom unsichtbaren Königreiche von Richard von Volkmann-Leander erhält, erscheint die Traumdeutung von Sigmund Freud. Träume als verdrängte, aktuelle aus der Kindheit stammende Wünsche. Görge begibt sich mit seinen Träumen in ein unsichtbares Königreich. Die Suche nach dem eigenen “unsichtbaren Königreich” ist das zentrale Motiv des Traumgörge. 

Deshalb verschwimmt in der Oper, was Traum und was Realität ist. Viele der Motivationen, der Vorgänge, sind nur aus der Perspektive der Traumrealität denkbar. Es ist ein Kabinett der obskuren Figuren. Der Zuschauer trifft auf eine unsympathische, beengte Dorfgemeinschaft. Diese haben keinen Sinn für Märchen, sondern halten sich selbst für Pragmatiker, die sich den Realitäten des Lebens stellen wollen. Für den Zuschauer wirken diese Dorfbewohner als unfreundlich oder sogar unheimlich. Vielleicht spiegeln diese unfreundlichen Dorfbewohner auch die Grundstimmung, der sich der Komponist Zemlinsky selbst ausgesetzt sah. Anfeindungen gegen Juden waren vielfach gesellschaftlich geduldet und politisch genutzt. Die Dorfgemeinschaft des Traumgörge zeigt eine Gesellschaft in der Feindbilder gepflegt werden, und die so als Kitt für den Zusammenhalt genutzt werden soll. Ausgrenzung, Übergriffe und Bedrohungen sind gesellschaftlich anerkannt und bilden ein gemeinsames Ritual.

Die Dorfbewohner, die Görges Bücher zerreißen und ihn bedrohen, weil er sich nicht von Gertraud lossagt, sind gruselige Vorboten auf eine intolerante Gesellschaft. In der Oper gibt es dann doch noch ein Happyend, weil sich zwei Außenseiter, Görge und Gertraud, zusammentun und sich selbst ein neues Leben erschaffen. Der Traumgörge soll aufzeigen, dass es verschiedene Lebensmodelle gibt. Es gibt den verträumten Görge, mit seiner Welt der Bücher, genauso wie Hans den Soldaten, der aus dem Krieg heimkommt und sein Glück in der Ehe mit Grete finden möchte. Hans möchte seine Erlebnisse vergessen und eine gesicherte Existenz durch die Heirat mit Grete bekommen. Deshalb schreckt er nicht vor Gewalt zurück, um dieses Ziel zu erreichen. Görge passt ihm nicht ins Konzept. So empfinden es auch die Bauern, die wollen einen starken Anführer, keinen Typen, der mit einer Hexe seine Zeit verbringt und nachdenklich ist. Sie wollen Action und am liebsten alle Feinde hängen. Sie haben sich gegenseitig aufgeputscht. 

Damit es keine klassische Oper wird, hat Zemlinsky die Oper mit einer überbordender Symbolwelt aufgeladen. Anders als für Görge gab es für den Komponisten Zemlinsky kein Happy End. Er stand zunächst im Schatten seiner berühmten Kollegen Arnold Schönberg und Gustav Mahler. Er musste 1938 vor den Nationalsozialisten nach Amerika fliehen. Dort starb er einsam und vergessen in 1942.

Die Inszenierung der Oper Frankfurt, unter der Regie von Tilmann Köhler, lässt Träumgörge bleiben, was es ist, ein Märchen. In einem Märchen gibt es immer einen Märchenwald. Hier gibt es eine Holzvertäfelung mit Bänken. Der Wald wird aber angedeutet. Besonders schön ist der Schluss, wo Görge seine Prinzessin auf einer Hollywood Schaukel trifft. Er ist umringt von Schülern, die Lesen lernen wollen. Märchen machen glücklich. Sie verbinden Menschen. Görge schenkt Menschen mit seinen Märchen Hoffnung auf eine schönere Welt. So glücklich darf eine Oper gerne enden.

Mit Traumgörge knüpft der Komponist Zemlinsky an seinen ersten Opernerfolg an. Das war die Oper „Der Zwerg“. Ebenfalls eine Märchenoper. Der Traumgörge ist seine dritte Oper. Aus Märchenstoffen Opern zu entwickeln war um 1903 sehr beliebt, auch z.B. Engelberg Humperdinck vertonte Märchen wie „Hänsel und Gretel“ oder „Die Königskinder“. Am Stoff der Traumgörge ist für Zemlinski typisch, dass er wieder einen Außenseiter als Titelfigur wählt. In seiner ersten Oper “Der Zwerg” ist dieser auch ein Außenseiter. Der Zwerg hält sich für äußerst schön. Er kennt sein Gesicht und seine Gestalt nicht. Er ist das Geburtstagsgeschenk für eine Prinzessin. Als sie ihm einen Spiegel vor die Nase hält, bricht sein Selbstbild und sein Selbstbewusstsein. Auch der Zwerg lebt folglich in einer Traumwelt.

Viel Spaß beim Nachlesen und viel Erfolg bei den kommenden Seminaren im Sommer 24 wünscht Ihnen und den UniWehrsEL-Lesern

Ihr Kulturbotschafter

Danke für das Bild vom Mobbing von Gerd Altmann auf Pixabay