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Gerade halte ich das wunderbare poetische Werk „Gral der verlorenen Träume“ von Nahid Ensafpour in meinen Händen. Nahid Ensafpour ist es gelungen, 32 Autoren und Autorinnen aus 14 Ländern durch Lyrik miteinander zu verbinden. Die von ihr zusammengestellten Gedichte wurden von Deutsch und Englisch ins Persische übersetzt. Damit fordert die Autorin ein, dass Grenzen überwunden werden und ein menschenwürdigeres Leben für alle möglich sein soll.

Sie hatte die Idee, eine Anthologie aus den Gedichten ihrer internationalen Freunde, übersetzt in Farsi, zu publizieren. Eine große Herausforderung, wie sie selber den Leser im Vorwort wissen lässt. Es ist wunderbar zu lesen, diese „Neuschöpfung einer Poesie der Poesie“. Sie entstand, erläutert uns Nahid Ensafpour, weil sie durch den Übersetzungsprozess ihre eigene Sprache gefunden hat, um die Gedankenwelt der Autoren nachzuspüren und den Lesern diese Empfindungen auch weiter zu geben.

Es war mir ein ganz besonderes Vergnügen, nach dem Geleitwort für “Leise weht das Wort dahin” auch für diese Anthologie, entstanden aus den Gedichten ihrer internationalen Freunde, ein Geleitwort schreiben zu dürfen. Es knüpft unmittelbar an unser Seminar an der U3L über die Melancholie in unsicheren Zeiten an.

Geleitwort

In jeder Zeile dieser Anthologie der Poesie mit dem wunderbaren Titel „Gral der verlorenen Träume“ zeigt sich das Erleben eines Momentes, indem gleichzeitig die besondere Stimmung des vergänglichen Augenblicks mitschwingt. Ein „panta rhei“ – alles fließt – wie Heraklit es so trefflich bezeichnete, indem sich alles fortwährend verändert und doch jeder Moment als Summe aller vorherigen Empfindung und Erinnerungen hervorgeht und neue Momente entstehen lässt. Dadurch gelingt das Wunder, das die Poesie vermag: alles zu einem Ganzen zusammenzufügen. Poesie ist immer eng mit einem Zeitbewusstsein verbunden. Wenn wir zurück in das 18. Jahrhundert gehen, von Gottscheds Worten, seiner Zeit und ihrem Bewusstsein ausgehen, verstehen wir, dass die Wesensbestimmung von Poesie als „Nachahmung der Natur“ bezeichnet werden kann. Das Dasein selbst ist voll und ganz Poesie. Sie ist die ursprüngliche Sprache der Menschheit, ist die einzige zur Verständigung der Völker und Kulturen, ist ästhetische Kunst, die die Grenzen überwinden kann

Nahid Ensafpour habe ich bei Ihrem wunderbaren Vortrag zu „Poetik und Melancholie“ in meinem Seminar „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten … über die Melancholie in unsicheren Zeiten“ lauschen dürfen. Melancholie in unsicheren Zeiten und die Kunst der Poesie stehen in engem Zusammenhang mit Gefühlen, oder auch dem Bewusstsein von Verlust und Vergänglichkeit. Gleichzeitig bergen sie im Nacherleben auch die Chance auf einen Neubeginn in sich.

Als verbindend zwischen Poesie und dem Bewusstwerden der Melancholie kann man auf die heutige Zeit bezogen, die Aussagen der niederländischen Philosophin Joke H. Hermsen begreifen. Sie beschreibt die Kunst und somit auch die Poesie als einen Hoffnungsträger, um Ängste und Zweifel zu überwinden und eine neue Beziehung zu sich selbst und der Welt aufzubauen.

Dichtkunst und Melancholie bilden seit Jahrhunderten eine Einheit. Literatur, Theater, Tanz und Musik bergen in sich das Potential der Kreativität. Durch die Kunst der Poesie ist es möglich, etwas von unserem Selbst zu erkennen.  Diesem Selbst, welches die Sehnsucht nach einer unerreichbaren Vergangenheit genauso in sich birgt, wie ein Verlangen, einen Traum, der trotz allen Wissens um seine Nichterfüllung in uns bestehen bleibt. Es ist die Poesie, durch die es gelingt, grenzenlos zu werden. Sie schafft eine Verbundenheit zwischen den Menschen und gleichzeitig eine sich ständig verändernde Beziehung zu einem bewussteren, sich erneuerten „Ich“ aufzunehmen.

Ich danke Dir, liebe Nahid, für das mir entgegengebrachte Vertrauen, diese Anthologie begleiten zu dürfen und wünsche allen Kreativen weiterhin, aus Ihren Ideen Kraft und Mut zu fassen und dies auch allen durch ihre Worte vermitteln zu können.

Frankfurt am Main im Februar 2023

Dr. phil. Elke Wehrs