You are currently viewing Vom “Struwwelpeter” zum „Shockheaded Peter“

Nichts für schwache Nerven und einfach nicht kleinzukriegen ist der „Struwwelpeter“ – Schadenfreude oder „Sündenbock-Funktion“, die Deutungen sind genauso zahlreich wie die Spielvarianten. Im Beitrag “Ohne Krimi geht die Mimi …” gab es dazu auch einen Krimitipp. Auf jeden Fall bleiben diese ungehorsamen widerspenstigen kindlichen Figuren und die grausame Bestrafung von Ungehorsam im Gedächtnis haften. Erfolgreich und doch heftig umstritten als „schwarze Pädagogik“ und dennoch oder gerade deswegen in Form von „schwarzem Humor“ beklatscht und umjubelt, tauchen sie nun im Darmstädter Theater bei “Shockheaded Peter” wieder auf.

Heinrich Hoffmann, ihr Schöpfer, war Arzt, angesehener Bürger Frankfurts, liebte Geselligkeit, Verse- schmieden und politisches Engagement. Hoffmann war auch Kinderarzt, der sich mit Ängsten, Trotz, Faszination und Bizarrem auskannte. Denn der Frankfurter Nervenarzt Hoffmann entwarf 1844 für seinen dreijährigen Sohn diese Geschichten, weil er kein geeignetes Buch als Weihnachtsgeschenk gefunden hatte. Gespiegelt findet der Leser die gewalttätigen Erziehungsmethoden im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Das Nichtbefolgen der Regeln, die Erwachsene aufgestellt haben, führte zu einem „Das geschieht ihm ganz recht!“

Da brennt Paulinchen, weil sie mit dem Feuerzeug spielt und die Warnung der Katzen überhört, da lutscht der Konrad am Daumen, obwohl er das unterlassen soll. Die Strafe folgt sozusagen auf den Daumen, der kurzerhand mit der Schere schnipp-schnapp entfernt wird. Auch die Missachtung der guten Suppe hat logischerweise Konsequenzen, der Kaspar verhungert eben.  

Hoffmann schrieb übrigens nicht nur düstere Moritaten über Kinder, die nicht gehorchen und grausam bestraft werden, er leitete auch ab 1851 die „Anstalt für Irre und Epileptische auf dem sog. Frankfurter „Affenstein“. Damit begründete er – nach heutigem Empfinden, kaum zu glauben, nach den erschreckenden Struwwelpeter-Geschichten – eine „humane“, allerdings noch in den Kinderschuhen steckende, Psychiatrie.

Schock- und Gruselmotive sollen ja bekanntlich eine kathartische Wirkung haben. Das setzte Hoffmann im „Struwwelpeter“ in einen warnend-erzieherischen Sinne um, was bei der liberalisierten und antiautoritären Pädagogik der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als heftig umstritten galt.

Die Bühnenadaptionen dieses Kinderbuch Klassikers sind unzählig. Im Programmheft in Darmstadt lässt sich nachlesen:

„„Shockheaded Peter“ ist die wohl erfolgreichste Bühnenadaption des weltberühmten Kinderbuchs. Die deutschsprachige Erstaufführung fand am 10.11.2000 in der Regie von Julian Crouch und Phelim McDermott am Deutschen Schauspielhaus Hamburg statt. Die preisgekrönte Band „The Tiger Lillies“ gründete sich 1989 auf eine Anzeige des charismatischen Sängers Martyn Jacques hin und begeistert seitdem weltweit in Theatern und Szeneklubs, immer ein Geheimtipp und immer für eine musikalische Überraschung gut.”

Schon 2022 bekam ich einen Leserbrief der dem UniWehrsEL über diese sensationelle Aufführung berichtete und auch 2024 wieder begeistert war:

„Irgendwie passend zu Halloween 2022 fand die Premiere des Musicals “Der Struwwelpeter” von den Tiger Lillies im Staatstheater Darmstadt statt. Der schwarze Humor wurde sehr gut umgesetzt. Die Bühne war verkleinert in ein Puppentheater. Es gab eine Band namens „Böse Buben“. Die haben dem Publikum ordentlich eingeheizt. Mit dabei Hubert Schlemmer als Erzähler und als einer von fünf ‚Hoffmans‘. Insgesamt haben fünf Schauspieler wirklich ihr Bestes gegeben und an einer Stelle sogar das Publikum zum Mitmachen animiert. Bei der Geburt des Struwwelpeters sollte das Publikum laut Tick, Tack, Tick Tack rufen. Es hatte etwas von Gaudi. Ich musste herzlich lachen, als ein Christkind mit blonden Haaren auftauchte.

Das Stück hatte sehr viele Gags wie „Mutter ist die Beste“, sagte Goethe auf einem Plakat, das sich der Zuschauer der Vorstellung mehrfach anschauen kann. Besonders eindrucksvoll wird mir die Mahnung im Gedächtnis bleiben, wie leicht jemand dem Alkohol verfallen kann und welche körperlichen Auswirkungen das hat. Dies wurde anhand des Vaters des Struwwelpeters sehr deutlich gezeigt, wie sich sein Gesicht immer weiter zum Negativen verändert. Auf einer schwarzen Box wurden die getöteten Kinder mit Kreuzen dargestellt.

Gut gefallen hat mir der fliegende Robert, der bei den Fischen landet. Hans Magnus Enzensberger hat ihm ja im Kontext von Eskapismus ein Denkmal gesetzt.

Ungebrochen ist die Spielfreude auch 2024. Die Schadenfreude beim „Du bist doch selber schuld, dann dann holt dich eben der Teufel“ kommt immer noch unheimlich gut beim Publikum an. Liegt es daran, dass viele der Besucher in einer Welt aufgewachsen sind in der es besser war „klar vorgezeigten Schrecklichkeiten und Grausamkeiten ins Auge zu sehen, als qualvoll alleine im Dunkeln zu liegen und nur zu ahnen“ wie Peter Weiss in “Abschied von den Eltern” schrieb.

Die britische Popgruppe “The Tiger Lillies”, wir berichteten bereits im Beitrag zu Franz Biberkopf über sie, „hat aus diesem berüchtigten Kinderbuch eine Junk-Oper für Erwachsene gemacht, die stilistisch in der Tradition der Musik von Brecht und Weill steht. Mit schaurig-schönen Balladen, mitreißenden osteuropäischen Klängen und schwarzem Humor treiben sie die Geschichten all dieser unartigen Kinder anarchisch auf die Spitze. Mit den spielerischen und ästhetischen Mitteln des Figurentheaters und einer vierköpfigen Live-Band.“ Nachlesen kann man dies im Veranstaltungshinweis des Staatstheaters Darmstadt.