Justizdilemma: Prima Facie am Staatstheater Darmstadt
Was geschieht, wenn der erste Anschein trügt? Wie viel Wahrheit steckt wirklich in den Geschichten, Erzählungen, Gerüchten, die wir hören? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des eindringlichen Theaterstücks „Prima Facie“, das derzeit am Staatstheater Darmstadt aufgeführt wird. Der Titel, abgeleitet vom lateinischen Begriff für „auf den ersten Blick“, verweist auf die komplexen Themen von Recht und Gerechtigkeit, die in dieser packenden Inszenierung behandelt werden.
Lieber Leser des Blog UniWehrsEL,
Im letzten Jahr lieferte Ferdinand von Schirach einen Kommentar zu: „Sie sagt. Er sagt„. Es ging in einem Fernsehspiel um einen Strafprozess am Berliner Landgericht, indem der Vorwurf einer Vergewaltigung verhandelt wurde und Aussage gegen Aussage stand – juristisch wie menschlich ein scheinbar unauflösbares Dilemma. Schirach kommentierte dazu, unser Strafgesetzbuch kenne den Begriff des Bösen nicht, beschreibe, was Vergehen und Verbrechen seien, löse Sachverhalt auf in Tat, Rechtswidrigkeit und Schuld. Richter urteilen, ob ein Mensch gegen das Gesetz verstoßen hat, ob er Schuld auf sich geladen hat, ob er zu bestrafen ist. Im Rechtsstaat entscheiden nicht Zeitungen Fernsehen oder Soziale Medien und Foren des Internets. Richter suchen die Wahrheit herauszufinden, indem sie Zeugen und Sachverständige anhören, vorgelegte Beweise ansehen, Argumente des Staatsanwalts, des Nebenklägers und des Verteidigers anhören, so Schirach, es gibt keine Wahrheit um jeden Preis.
In „Prima Facie“ geht es um die gleiche Problematik. Die Autorin Suzie Miller von Prima Facie erschuf die Figur der Tessa Ensler, inspiriert von den zahlreichen Geschichten von Frauen, die sie im Laufe ihrer Karriere am Gericht kennengelernt hat. Tessa verkörpert die weiblichen Erfahrungen, die im Angesicht des bestehenden Rechtssystems stehen. Der Name der Hauptfigur „Ensler“ ist eine Hommage an die renommierte Dramatikerin Eve Ensler, die 1996 die „Vagina-Monologe“ veröffentlichte. Diese eindrucksvolle Sammlung von Monologen basiert auf rund 200 Interviews mit Frauen und thematisiert eine Vielzahl von Erlebnissen – von sexuellen Erfahrungen, Lust und Begehren bis hin zu Enttäuschungen, sexuellem Missbrauch und Gewalt. Bis heute gilt dieses Bühnenstück als eines der bedeutendsten politischen Theaterwerke seiner Zeit.
Ein eindrucksvoller Auftakt
Die Regisseurin Anna Bergmann, die sich als Schauspieldirektorin des Badischen Staatstheaters Karlsruhe einen Namen gemacht hat, bringt Suzie Millers preisgekröntes Stück „Prima Facie“ auf die Bühne. Die Inszenierung beginnt mit einem eindrucksvollen Bild: Die Schauspielerin Emily Klinge ist gefesselt mit einer Schnur eines Telefons in einem gläsernen Kasten. Dieses Bild ist nicht nur visuell stark, sondern symbolisiert auch die Ohnmacht und Isolation der Protagonistin. Gerade hat sie etwas Unvorstellbares erlebt – sie wurde vergewaltigt. Ein schreckliches Gefühl, das die Zuschauer sofort in den Bann zieht. Die Ungerechtigkeit, die sie erleidet, wird umso schmerzhafter, da der Übergriff von einem Arbeitskollegen ausgeht.
Der Weg zur Gerechtigkeit?
In einer verzweifelten Nacht macht sich die Protagonistin auf den Weg zur Polizei, um Anzeige zu erstatten und ihre Wunden dokumentieren zu lassen. Sie glaubt an das Rechtssystem, an die Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erfahren. Schließlich ist sie selbst Anwältin. In einem eindrucksvollen Video wird ihr turbulenter Arbeitsalltag dem Publikum nähergebracht: Morgens im Schwimmbad, sportlich aktiv und voller Energie, gefolgt von einem Tag voller Aufgaben vor Gericht und in der Kanzlei. Ihre Leidenschaft für das Gesetz und ihre Entschlossenheit, für die Wahrheit zu kämpfen, sind spürbar.
In ihrer Rolle als Strafverteidigerin vertritt Tessa auch Mandanten, die wegen sexueller Belästigung, Übergriffigkeit oder Vergewaltigung angeklagt sind. Dabei sieht sie sich in Kreuzverhören den Frauen gegenüber, die als angebliche Opfer sexueller Gewalt auftreten. Ihre Aufgabe ist es, deren Geschichten bis ins kleinste Detail zu hinterfragen. Um dies zu erreichen, muss sie den betroffenen Frauen unangenehme Fragen stellen und die angeblichen Tatvorgänge bis ins letzte Detail aufbereiten. Sie prüft akribisch, ob jede Aussage schlüssig ist und ob es Widersprüche gibt. Wenn sie auf Unstimmigkeiten stößt, könnte man annehmen, dass die gesamte Geschichte in Zweifel gezogen werden kann, oder nicht?
Für Tessa spielt es keine Rolle, dass sie selbst eine Frau ist. Sie behandelt jede Person im Kreuzverhör gleich und überprüft die Aussagen unabhängig von Geschlecht oder Hintergrund. Auch wenn es schmerzhaft sein kann, ist es ihr Ziel, begründete Zweifel nachzuweisen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Doch wie kommt es zu der verhängnisvollen Begegnung mit ihrem Arbeitskollegen? Die Zuschauer erleben, wie Tessa, die Protagonistin, durch ihren beruflichen Erfolg und die gewonnenen Prozesse in eine euphorische Stimmung versetzt wird. Diese Euphorie führt zu einer Annäherung an ihren Kollegen, die in einer leidenschaftlichen, einvernehmlichen Nacht im Büro gipfelt. Ein Gefühl von Zuneigung, Ausgehen und Spaß erfüllt die Luft. Doch diese scheinbar unbeschwerte Zeit endet abrupt in einer halbbetrunkenen Nacht, die in einem Übergriff mündet
Nach dem Übergriff beginnt der verzweifelte Kampf um Gerechtigkeit. Tessa sieht sich mit den Herausforderungen des Rechtssystems konfrontiert, das oft nicht in der Lage ist, die komplexen und traumatischen Erfahrungen von Frauen angemessen zu berücksichtigen. Durch die Vergewaltigung findet sie sich auf der anderen Seite des Rechts wieder. Sie ist keine Verteidigerin mehr, sondern ein Opfer. Sie muss glaubhaft machen, dass ihr ein Unrecht widerfahren ist.
Die Kluft zwischen den Erfahrungen von Frauen und dem Rechtssystem ist alarmierend. Neun von zehn sexuellen Übergriffen werden nicht gemeldet, und von den wenigen, die zur Anzeige gebracht werden, enden die meisten ohne Verurteilung. Tessa Ensler wird zu einer der vielen Frauen, deren Geschichten nicht geglaubt werden. Doch das Stück ist nicht nur eine Anklage, sondern auch ein Aufruf zur Veränderung. Es fordert das Publikum auf, über die bestehenden Strukturen im Justizsystem nachzudenken und die Stimmen der Frauen zu hören.
Fazit: Ein kraftvolles Theatererlebnis
„Prima Facie“ am Staatstheater Darmstadt ist mehr als nur ein Theaterstück; es ist ein kraftvolles und bewegendes Erlebnis, das die Zuschauer dazu anregt, über Gerechtigkeit, Macht und die Wahrnehmung von Frauen im Rechtssystem nachzudenken. Suzie Millers Werk ist ein eindringlicher Appell, der die Notwendigkeit einer Reform und die Bedeutung des Zuhörens in den Vordergrund stellt.
Mit herzlichen Grüßen vom Kulturbotschafter des UniWehrsEL und der Bitte um einen Kommentar!
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