Am Theater Meiningen zeigt sich eine interessante Vorstellung mit dem Titel „Ende einer Verhandlung“ von Anna Gmeyner. Das Stück thematisiert den Gruppenexzess. Wie der Name des Schauspiels bereits erahnen lässt, geht es in dem Stück vordergründig um eine juristische Verhandlung mit einem klaren Urteil. Hat der Ehemann seine Frau von der Klippe gestoßen? Oder war es ein tragischer Unfall? Auf der Suche nach einer Antwort beginnen die Jurymitglieder den Tathergang nachzuvollziehen. Wobei Mr. Smith versucht, die Gruppe nach seinem Willen zu manipulieren. Ins Wanken gerät durch Mr. Smith‘ Argumente die junge Miss Cadell. Kann die These mit dem Unfall stimmen? Ist dies nur der männliche Blick auf den Fall? Miss Cadell kämpft in einem System in dem sich die Frauen der Männermeinung unterordnen müssen. Danke für diesen interessanten Leserbrief!
Liebes UniWehrsEL,
Im Zentrum des Stücks „Ende einer Verhandlung“ steht die Urteilfindung von 12 unterschiedlichen Charakteren, welche eine Jury bilden und deren Hauptziel es ist, ein Urteil im Konsens zu treffen. Um den Fall spektakulär für den Zuschauer zu gestalten, müssen die 12 Menschen über einen Mord entscheiden. Das Stück spielt in England, nicht in Deutschland. Deshalb auch die Jury. Der Angeklagte, Mr. Taylor, soll seine Frau am Devils Cliff, zu Deutsch Teufelsfelsen, hinunter gestoßen haben.
Plötzlich bricht einer der Geschworenen, namens Mr. Smith, zusammen. Dies führt bei den anderen Geschworenen dazu, ihre Situation zu überdenken. Die 12 Menschen sind seit Tagen eingesperrt. Sie haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Der Raum ist eng, und es herrscht eine drückende Hitze. Soweit ist die Ausgangslage klar umrissen.
Der Autorin Anna Gmeyner geht es in dem Stück nicht um die fachgerechte, juristische Lösung eines Mordes, als vielmehr, die unterschiedlichen sozialen Schichten und Temperamente der 12 Geschworenen anzuzeigen. Der Zuschauer lässt sich also auf ein Sozialexperiment ein, welches in Gestalt einer Gerichtsverhandlung auf die Bühne gebracht wird. Der Zuschauer kann an dem Stück das Verhalten von Menschen in Gruppen studieren. Die Autorin versteht viel von zwischenmenschlichen Beziehungen und hat ein großes Wissen über Kommunikationsprozesse, die zwischen Gruppen ablaufen. Dies ermöglicht es der Autorin, die Realität gut auf der Bühne abzubilden.
Die Jury setzt sich aus dem bescheidenen und zurückhaltenden Briefträger Adam Dunn und dem schüchternen jungen Bankangestellten James Bradley zusammen. Diesen schüchtern wirkenden Personen stellt Anna Gmeyner den extrovertiert und auf sein Aussehen achtenden Zahnarzt Allister Scott gegenüber. Sein Gegenpart ist der gut situierte, aber sehr kühl kalkulierende Mr. Kingsley. Er ist vermutlich der oberen Gesellschaftsschicht zuzuordnen. Das nächste Gegenpolpaar bilden der laute, oft cholerische, Charles Johnson und der leise, resignierende Ladenbesitzer Haracles Cook. Edward William Sanders wird von der Gruppe zum Vorsitzenden gewählt. Sein Charakter ist pedantisch. Besonders achtet er auf Korrektheit und die Würde des Amtes. Zwei Figuren sind für den Zuschauer undurchschaubar, Mr. Foster und Mr. Smith. Mr. Foster ist zwielichtig und erweckt Unbehagen beim Beobachter. Mr. Smith ist dagegen mysteriös, und seine Motive sind rätselhaft.
Die Gruppe von neun Männern wird durch drei Frauenfiguren vervollständigt. Dorothy, die älteste Frau, hat die Kämpfe zwischen den Geschlechtern bereits hinter sich. Sie steht für sich selbst ein und wird von der Gruppe geduldet. Anders ist die Lage für Katharine Mead. Sie ist eine alleinstehende Frau Ende 30. Katharine kämpft mit dem Älterwerden und gegen das Gefühl an, aus der Wahrnehmung der Männer zu verschwinden.
Die dritte Frau erinnert Katharine auf grausame Weise an die eigene Vergänglichkeit. Magdalena Cadell ist Anfang 20 und arbeitet als Modell. Ihre Figur legt eine Unbedarftheit an den Tag. Durch ihr ansprechendes Aussehen hat Cadell ein großes Selbstbewusstsein. Sie legt Anspruchsdenken an den Tag und glaubt an die eigene Unsterblichkeit. Diese Verhaltensweise ist nur der Jugend vorbehalten.
Die drei Frauen müssen sich gegen neun Männer behaupten. Die Frauen stehen in einem Generationskonflikt, und dieser Umstand macht es den Frauen sehr schwer, gegenüber der anderen Frau solidarisch zu sein. Die neun Männer stehen in dieser Versuchsanordnung für das Patriarchat, also einem System von sozialen Beziehungen, Werten, Normen und Verhaltensweisen von Vätern und Männern. Cadell zieht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Männer auf sich. Das sorgt nicht nur für Neid auf Meads Seite, es weckt auch das Konkurrenzdenken der Männer. Scott geht offensiv in den Flirtmodus.
Dagegen schmachtet Bradley Cadell aus der Ferne an. Foster ist auf seinem eigenen Vorteil aus und unterbreitet ein unmoralisches Angebot. Die Reaktion von Cadell ist scharf. Sie erwidert sein Angebot mit einer Ohrfeige. Kingsley wählt den eleganteren, dezenten Weg und kann sich auf diese Art die größten Hoffnungen machen. Cadell muss sich ihren Weg im patriarchalen System erkämpfen. Die Männer nehmen Cadell nicht ernst. Für die Männer ist sie eine reine Projektionsfläche. Die anderen Frauen sind für Cadell keine Verbündeten.
Anna Gmeyner hat dieser Gruppe, die sich nicht selbst gefunden hat, sondern durch äußere Umstände als Jury zusammengestellt worden ist, die denkbar größten Hürden mit auf den Weg gegeben.
Neben dem mühevollen Auswahlprozess müssen sich die Gruppenmitglieder einen engen Raum teilen, welchen sie nicht einfach verlassen können. Das Zimmer der Geschworenen ist wie ein imaginäres Gefängnis. Die Gruppe darf den Ort nicht verlassen, bis ein Urteil gefasst ist. Die Gruppe hat einen klaren Arbeitsauftrag. Sie muss eine einstimmige Entscheidung treffen. Die Grundfrage lautet: ist der Angeklagte schuldig oder nicht?
In den ersten beiden der drei Akte müssen die unterschiedlichen Charaktere sich als Gruppe zusammenfinden. Danach folgt eine Phase des Streits. In der ersten Phase der Gründungsphase geht es um die Entwicklung des Miteinanders durch Lagerbildung. In der Streitphase geht es um die Entwicklung des Miteinanders durch einen Konflikt. Die Gründungsphase ist besonders heikel bei der Gruppenbildung. Die Gruppenmitglieder haben einen seelischen Spagat zwischen Neugier und Vorsicht zu durchlaufen. Werde ich von der Gruppe akzeptiert? Wie verhalte ich mich korrekt, wenn ich nicht weiß, was richtig ist?
Das sind normale menschliche Prozesse, und auch die Figuren von Anne Gmeyner orientieren sich an ihrer Menschenkenntnis. Sie ordnen die Mitmenschen durch Kleidung, Sprachstil und Körpersprache ein. Daraus entstehen verschiedene Lager. Jeder sucht sich seine Verbündeten. Es werden auch offen Feindschaften ausgelebt. Das Stück beginnt mit einer Krise. Das Zimmer ist eng. Die Hitze belastet, der Mordfall ist grausam. Der Prozess dauert bereits drei Tage. Diese Lage baut Druck auf. Die Verantwortung als Jurymitglied lastet auf den Personen.Schließlich müssen sie eine Entscheidung über das Schicksal eines anderen Menschen treffen. Das sorgt für seelischen Stress. Der Geschworene Mr. Smith fällt in Ohnmacht. Die Verhandlung muss unterbrochen werden. Dies ist eine weitere Verzögerung im Ablauf. Keiner weiß was mit dem Mann los ist.
In diese explosive Ausgangslage wird der Zuschauer hineingeworfen. Die Gruppe spiegelt den Widerspruch zwischen individuellen Wünschen und der kollektiven Aufgabe wider. Es bilden sich Kleingruppen, die sich als zwei gegnerische Lager wiederfinden. Dennoch gelingt es der Gruppe, in bestimmten Momenten eine Annäherung zu finden. Die erste Abstimmung wird durch den Zweifel eines der Mitglieder aufgehalten. Die zweite Abstimmung wird von den undurchsichtigen Motiven des undurchschaubaren Mr. Smith verhindert. Sein Verhalten löst bei den anderen Gruppenmitgliedern ein Gefühl des Verrats aus. Mr. Smith wird zum Judas und Sündenbock für allen Frust der Jury, durch die angeheizte Situation (die Sündenbock Funktion ist ein häufiges Thema im UniWehrsEL, so auch beim Beitrag zum Struwwelpeter). Dennoch, oder gerade deshalb, gelingt es der Gruppe, wieder ins Zuhören zu kommen.
Die Gruppe schafft am Ende doch den Zusammenhalt. Das ist die Botschaft von Anna Gmeyner. Auf diese Art und Weise geschieht im dritten Akt tatsächlich ein Wunder. Die Gruppe findet vollkommen unerwartet eine einstimmige Entscheidung. Die Zusammenarbeit in der Gruppe hat letztlich geklappt.
Das „Ende einer Verhandlung“ ist ein bisher gänzlich unbekanntes Stück der Autorin. Geschrieben in den 1930er Jahren. Es wirft Fragen über die Wahrheitsfindung in einem Mordfall auf. Das Stück fragt nach Schuld, Gerechtigkeit und hinterfragt die Geschlechterrollen kritisch. Im Nazideutschland war Gmeyners Stück, das an „Die 12 Geschworenen“ erinnert, verboten. Die Regie von Frank Behnke nimmt den Zuschauer mit in dieses gruppenpsychologische Experiment.
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