Du betrachtest gerade Widerstand und Waldesrauschen: Freiheit bei Diogenes, Thoreau, Marx, Max im „Freischütz“

Diogenes strebte mit provokativem wie schlichtem Lebensstil Unabhängigkeit an, die Freiheit eines völlig autarken Lebens. Der Philosoph Karl Marx schätzte Freiheit und Entfaltungsfähigkeit des Individuums als höchstes Ideal. Sein Kampf richtete sich gegen politische und religiöse Bevormundung. Der Schriftsteller Thoreau propagierte die „Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, wollte lieber „den Mondschein zwischen den Bergen sehen“, statt „unter Deck“ zu leben und zog für zwei Jahre allein in einen Zufluchtsort im Wald. Anders die Figur des Jägers Max im „Freischütz“. Wenn Max sein Herz an den Erfolg hängt, verinnerlicht er gleichzeitig die dunkle Religion des Erfolgs um jeden Preis. Dazu muss er in den Wald, an den Ort des Bösen.

Liebe Seminar-Talk Leser,

Wer träumt nicht davon, einfach und unabhängig zu leben, weit entfernt von den Zwängen des profanen Alltags? Die innere Befreiung durch weitgehenden Verzicht auf äußere Bedürfnisbefriedigung zu erreichen, ist eine Sehnsucht, die die Menschen seit Jahrtausenden antreibt. Diese Gedanken griff der Philosoph Diogenes von Sinope (ca. 412 v. Chr. – 323 v. Chr.) auf, der als einer der bekanntesten Vertreter der Kyniker gilt. Diogenes lebte in einer Tonne und lehrte, dass das wahre Glück in der Selbstgenügsamkeit und der Abkehr von materiellen Werten liegt. Sein berühmter Spruch „Gehe mir aus der Sonne“ verdeutlicht seine radikale Ablehnung gesellschaftlicher Konventionen und den Wunsch nach Unabhängigkeit.

Ähnlich wie Diogenes stellte sich auch der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817–1862) grundlegende Fragen zu einem Leben in Einklang mit der Natur und der Ablehnung des Konsums. In seinem Buch „Walden“ beschreibt Thoreau seine Erfahrungen während seines zweijährigen Aufenthalts in einer selbstgebauten Hütte am Walden Pond. Als Konsumkritiker, Naturfreund und Fortschritts-Skeptiker fordert er seine Zeitgenossen auf, die Hektik und den Materialismus der Zivilisation hinter sich zu lassen. Thoreau, der als großer Nationaldichter der USA gilt, wurde von seinen Zeitgenossen oft als kauziger Sonderling wahrgenommen, da seine Ideen im 19. Jahrhundert als radikal angesehen wurden.

Neben „Walden“ verschaffte sich Thoreau auch Anerkennung durch sein Werk  „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat„. Das Allroundtalent erweckte sowohl Naturschützern und Freiheitskämpfern, als auch in der Musikwelt Aufmerksamkeit. Seine Forschungen galten den Klangwelten seiner Zeit, zwischen Natur und Technik.

Die Kritik an der Lohnarbeit: Thoreau und Marx im Vergleich

Thoreaus „Walden oder Leben in den Wäldern“ ist weit mehr als ein Ökoklassiker oder Aussteigerbuch, denn er kritisiert bereits 1854 den Kapitalismus in der Blütezeit der Industrialisierung. Nur wenige Jahre später begann Karl Marx mit seinem „Kapital“. Thoreau versteht dabei weniger das System, als den einzelnen Menschen selbst als die treibende Kraft, die ihn erdrückt. Und seine Kritik gilt der Arbeit selbst: „Ihr macht Euch krank, damit Ihr etwas für Eure kranken Tage zusammenspart.“

„Tatsächlich hat der arbeitende Mensch Tag für Tag keine Zeit zur inneren Läuterung. Es ist ihm unmöglich die menschlichen Beziehungen zu den Menschen zu unterhalten. Seine Arbeit würde auf dem Markte im Preise sinken. Er hat nur Zeit eine Maschine zu sein.“

In Thoreaus berühmtem KlassikerWalden“ sind Antworten auf zwei sehr moderne Fragen enthalten: Wie lebe ich mein Leben, wenn ich angesichts der Corona-Pandemie in Quarantäne, Isolation oder Kontaktreduzierung gehen muss? Und wie kann ich angesichts des Klimawandels ein nachhaltiges Leben führen, ohne überflüssigen Konsum, und in Einklang und Harmonie mit der Natur glücklich werden?

Thoreaus Thesen lassen sich mit den Ideen von Karl Marx vergleichen. Beide kritisieren die Lohnarbeit als ein Instrument der Entfremdung und Sozialkontrolle, das den Menschen zu einer seelenlosen Produktionskraft degradiert. Marx argumentiert, dass die Arbeit nicht mehr als ein Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck betrachtet würde und dass die Menschen keine Muse mehr zur Selbstbesinnung haben. An einem Punkt jedoch widerspricht Thoreau Marx: Während Marx die profitgierigen Kapitalisten für die Entfremdung verantwortlich macht, glaubt Thoreau an die Eigenverantwortung des Menschen. Er ist überzeugt, dass kein Mensch gezwungen ist, sich ausbeuten zu lassen. In „Walden“ betont er, dass zum Überleben ein Arbeitstag pro Woche ausreiche – nicht mehr als sechs.

Der Wald als Symbol der Entfremdung: Max in „Der Freischütz“

Ein anderer Blick auf den Wald als Ort der Bedrohung und eine Gesellschaft, die sich über Erfolg definiert, wird in Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ (2025 bei den Bregenzer Festspielen) in der Person des Max geworfen. Max, einst der sorgloseste Schütze, hat seine innere Verbundenheit mit der Natur verloren. Die Figur des Max, des Jägers, kann als eindrucksvolles Beispiel für die Thesen von Karl Marx zur Lohnarbeit und deren Entfremdung gelten. Max ist ein talentierter Schütze, der jedoch unter dem Druck steht, den Probeschuss zu bestehen, um seine Geliebte Agathe heiraten zu können. Diese Situation verdeutlicht die Abhängigkeit, in der Max sich befindet, und die gesellschaftlichen Erwartungen, die auf ihm lasten.(dazu auch unser Beitrag „Der Freischütz“ – den deutschen Wald klanglich erfahrbar machen„.)

Marx argumentiert, dass die Lohnarbeit den Menschen zu einer seelenlosen Produktionskraft degradiert, indem sie ihn von seiner Kreativität und seiner Verbindung zur Natur entfremdet. Max, der einst ein sorgloser und freier Jäger war, hat seine innere Verbundenheit mit dem Wald und der Natur verloren. Der Druck, den er durch seinen Dienstherren, den fürstlichen Erbförster Kuno und die gesellschaftlichen Erwartungen erfährt, – die Dorfgemeinschaft spekuliert auf die baldige Hochzeit und Max würde seine Gesicht verlieren, wenn er bei der Prüfung versagen würde -, führt dazu, dass er sich nicht mehr als der selbstbestimmte Mensch fühlt, der er einmal war. Stattdessen wird er zu einem Werkzeug, das die Anforderungen der Gesellschaft erfüllen muss.

Thoreaus Thesen aus „Walden“ auf die Figur des Max in „Der Freischütz“ übertragen

Hier kommen die Thesen von Henry David Thoreau ins Spiel, die in „Walden“ eine andere Perspektive auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur bieten. Max könnte nach den Ideen von Henry David Thoreau mehrere Schritte unternehmen, um sein Leben zu verbessern. Zunächst wäre es für ihn wichtig, eine Rückkehr zur Natur zu suchen. Indem er Zeit im Wald verbringt, könnte er seine innere Klarheit und sein Selbstvertrauen zurückgewinnen. Thoreau betont die Bedeutung der Selbstgenügsamkeit, und Max könnte lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, anstatt den gesellschaftlichen Erwartungen wie der Hochzeit oder dem Probeschuss große Bedeutung beizumessen.

Ein zentraler Aspekt von Thoreaus Philosophie ist die Eigenverantwortung. Max sollte erkennen, dass er die Kontrolle über sein eigenes Leben hat und nicht gezwungen ist, sich den Anforderungen seines Dienstherrn zu unterwerfen. Diese Erkenntnis könnte ihm helfen, mutig für seine eigenen Überzeugungen einzustehen. Schließlich könnte Max sich entscheiden, gegen die Erwartungen seiner Braut, der Dorfgemeinschaft und dem Kurfürsten aufzulehnen. Der Preis allerdings wäre sehr hoch.

Max‘ Situation in „Der Freischütz“ steht im krassen Gegensatz zu Thoreaus Idealen. Während Thoreau die Natur als einen Ort der Selbstfindung und der inneren Ruhe sieht, wird der Wald für Max zur Quelle von Angst und Unsicherheit. Der Druck, den Probeschuss zu bestehen, und die Abhängigkeit von seinem Dienstherren hindern ihn daran, die Schönheit der Natur zu genießen. Max hat seine innere Verbundenheit mit dem Wald verloren und ist gefangen in den Erwartungen der Gesellschaft.

Thoreaus Überzeugung, dass ein Mensch nicht gezwungen ist, sich ausbeuten zu lassen, steht im Widerspruch zu Max‘ Situation. Während Thoreau argumentiert, dass ein Arbeitstag pro Woche zum Überleben ausreiche und dass die Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen sollten, ist Max in einem System gefangen, das ihn zwingt, sich den Anforderungen des Kurfürsten zu unterwerfen. Diese Abhängigkeit und der Druck, den er gesellschaftlich erfährt, führen dazu, dass er seine Identität fast verliert.

Herzlichen Dank an die Schreiberin dieses Artikel, die damit an unser Gespräch zu „Sehnsucht nach Freiheit“ im Kontext von „Nur wer die Sehnsucht kennt …“ reagiert hat. Und wieder einmal unseren ganz besonderen Dank auch an Pixabay für die beeindruckenden Bilder, die, so hoffen wir, unsere Texte ein wenig auflockern und das Lesen erleichtern! Ihr Team UniWehrsEL