Du betrachtest gerade „Der Golem“- Projektion gesellschaftlicher Neurosen

Zum Themengebiet des Staunens gehört unweigerlich auch das Schauerliche, das Unheimliche, welches in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg neu entdeckt wurde. Als Reaktion auf das materialistische Zeitalter beschäftigte sich Gustav Meyrink mit Mystizismus und Spiritismus. Heraus kam dabei ein Roman „Der Golem“, eine „spannende und brisante Mixtur aus Okkultismus und Kabbala, eine Mordgeschichte und vor allem eine Beschwörung des untergegangenen Prager Judenghettos in expressionistischer Verzerrung“, wie der Literaturwissenschaftler Volker Neuhaus Meyrinks Golem-Geschichte im Deutschlandfunk beschreibt. Dazu ein Leserbrief mit herzlichem Dank!

Liebes UniWehrsEL,

nach unserem gestrigen spannenden Seminar, in dem wir beispielsweise über die Frage reflektiert haben, wie der Dichter STAUNEN beim Publikum erregen kann, habe ich mir weitere Gedanken gemacht. Als Beispiel dafür, wie STAUNEN zu einer sich zunehmend emanzipierenden Imaginationstätigkeit entwickeln kann und wie sich das STAUNEN zu Illusions- und Immersionserfahrungen verhält, dient der Golem-Effekt.

Dem Golem begegnet man vielerorts, so auch im jüdischen Museum in Berlin unter dem Titel „Der Golem – von Mystik bis Minecraft“. Seine Faszination macht aus, dass er sowohl in der bildenden Kunst, als auch für Film und Computerwelt Pate steht. Es geht um menschliche Schöpfung, die Gutes bewirken kann, aber auch das Potential in sich birgt, außer Kontrolle zu geraten.  

Das erinnert an Mary Shelleys „Frankenstein“, den modernen Prometheus, wie es im Untertitel heißt, den wir ja auch gestern im Seminar staunend unter die Lupe genommen haben. Die Geschichte kennen wir bereits aus dem Beitrag „Getting lost im Museum“ im UniWehrsEL. Im Jahre 1816 regte das Horror-Wetter am Genfer See die 18jährige Mary Godwin, die mit dem Dichter Percy Shelley durchgebrannt war zum kreativen Schreiben an. Lord Byron verfasst ein Gedicht namens „Finsternis“, sein Leibarzt entwirft eine Geschichte um einen auffallend blassen Adeligen, der zum Prototypen des modernen Vampirs gerät. Mary Godwin, (später Mary Shelley) sieht „das grässliche Trugbild eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit irgendeiner mächtigen Maschine hin, gab es plötzlich Lebenszeichen und regte sich mit einer ungelenken, aber lebensähnlichen Bewegung“. Es ist die Geburtsstunde von „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (1818). Im Gegensatz zum Golem spielt hier der Forscher Victor Frankenstein Gott. Er will als Arzt nicht nur Menschen helfen, sondern will sein überragendes Wissen und Können unter Beweis stellen. Er schafft eine Kreatur, die zwar intelligent und lernfähig ist, aber genauso rachsüchtig wie gnadenlos und somit zum Mörder wird.

Ganz anders „Der Golem – Die Ursprünge einer Legende“. „Er ist weder Mensch, noch Tier, noch Maschine: Ein Golem wird aus unbelebter Materie geformt und durch magische Handlungen zum Leben erweckt. Ursprünglich diente die Schöpfung eines Golems jüdischen Mystikern* im Mittelalter als Versuch, sich Gott anzunähern“, so erfuhr man es in der Ausstellung im jüdischen Museum vom 23. September bis zum 29. Januar 2017.

Der Name „Golem“ findet sich bereits im Alten Testament – im Psalm 139, Vers 15 und 16. Im Hebräischen bezeichnet er dort eine „noch ungeformte Masse“. Martin Luther übersetzt das mit dem Wort „unbereitet“. Es gibt auch die Bedeutung des „Embryos“.

Zurück zum Roman „Der Golem“ von Meyrink. Ihm geht es um eine Sagenfigur, die für Angst und Schrecken bei den Bewohnern im Prager Ghetto sorgte. „Ghetto“ habe hier eine doppelte Bedeutung. Einerseits als Ort und Symbol jüdischer Identität, indem das Unheimliche und Beängstigende sich auf das reale 1893 zerstörte Prager Ghetto beziehe, andererseits auch als Sinnbild für Ausgrenzung und Isolation. Letztgenanntes ist auch der Grund für „Frankenstein“ gewesen, sich an den Menschen zu rächen und sie zu ermorden.

Meyrinks Bestseller der Golem fungiert als Gespenst des „kollektiven Unbewussten“ (Carl Gustav Jung hat diesen Begriff geprägt) und beflügelt immer wieder die abendländische Phantasie. Die dahinterliegende Idee reicht von Allmachtsfantasien des Menschen, seiner Überlegenheit gegenüber der Natur, seinem Verhältnis zur Materie. Im 20. Jahrhundert fungiere Golem als Allegorie, als Gleichnis auch für die Reduzierung des Menschen selbst zu einem Automaten, erläutert der Judaist Michael Brocke. Er spricht damit auch Paul Wegeners berühmten Stummfilm von 1920 an; „Wie der Golem in die Welt kam.“ Der Brite John Casken, Komponist der Oper „Der Golem“, stellt die Erlöserfigur in den Fokus seiner Betrachtungen, denn die jüdische Gemeinschaft fühlte sich bedroht und wünschte sich einen Beschützer.

Der Prager Schriftsteller Eduard Petiska schildert ihn 1972 so: „… Hinter der Stadt fanden der Rabbi, sein Schwiegersohn und sein Lieblingsschüler am Ufer des Moldauflusses eine Stelle, an der genügend feuchter Lehm vorhanden war. Sie entzündeten eine Fackel, beteten ohne Unterlass und sagten Psalmen auf. Dann kneteten sie aus dem formbaren Lehm die Gestalt eines Menschen, drei Ellen lang, legten sie auf die Erde, und modellierten mit behutsamen Fingerbewegungen Mund, Nase, Augen und Ohren.“

Der Ursprung der Volkssage vom Golem liegt im Dunkel. Erste Bruchstücke tauchen im 12. Jahrhundert auf, als ein hebräischer Kommentar des gelehrten Rabbiners und Kabbalisten Eleazar von Worms zu einem Traktat der frühen jüdischen Mystik erscheint. Dieses Werk nennt sich „Sefer Jezirah“ – „Buch der Schöpfung“ und ist einer der ältesten und geheimnisvollsten Texte der Kabbala. Das wiederum passt hervorragend zum Thema der Mystik und Magie im Kontext des Seminars rund um das Staunen.Nicht einmal seine genaue Entstehungszeit ist bekannt.

„Der Golem“, so kann man nachlesen, „wacht in Krisenzeiten immer wieder auf und wandert durch unsere Träume. Er ist eine Projektion der gesellschaftlichen Neurosen unserer Zeit, ein Symbol unserer Ängste und Sorgen“.

Mit freundlichen Grüßen

ein staunender Studierender an der U3L

Danke für das Golem Bild von Artie_Navarre auf Pixabay