Die amerikanische Lyrikerin Anne Sexton (1928-1974) hatte psychische Probleme. Der, von ihr aufgesuchte, Therapeut riet ihr zu schreiben. Ihre Lyrik erschien in den USA in der Gesamtauflage von 500.000 Exemplaren. Damit gehört sie zu den meistgeehrten Dichterinnen Amerikas. Ihre Themen zu Krankheit, Religion, Therapie und Tod lassen nicht nur Theologen die tiefe Sehnsucht nach Gott spüren. Vor 50 Jahren nahm sich die Lyrikerin das Leben. Das erstaunliche Leben der Anne Sexton, vom tristen Vorstadtleben zur literarischen Ikone, faszinierte und erstaunte eine UniWehrsEL-Leserin gleichermaßen. Hier ihre Gedanken dazu, mit herzlichem Dank!
Liebes UniWehrsEL,
im Wintersemester 2024/25 widmet sich ein von mir besuchtes Seminar dem Thema Erstaunen. Das Erstaunen wird von mir wie nachfolgend definiert: Es handelt sich um ein Gefühl der Überraschung oder Verwunderung, das durch etwas Unerwartetes oder Ungewöhnliches ausgelöst wird. Dieses Gefühl führt oft zu einem Moment des Innehaltens, in dem man die neue Information oder Erfahrung verarbeitet. Die Lyrikerin Anne Sexton erscheint mir als ein gutes Beispiel für Erstaunen in der Literatur. Ihre Fähigkeit, persönliche und gesellschaftliche Themen offen und ehrlich zu behandeln, überrascht und beeindruckt viele Leser. Ihre Transformation von einer Vorstadthausfrau zu einer gefeierten Dichterin ist ebenfalls ein erstaunlicher Aspekt ihres Lebens.
Im Oktober 2024 hörte ich im Deutschlandfunk ein Portrait über die Lyrikerin Anne Sexton. Besonders spannend ist die eigene Selbstbeschreibung von Anne Sexton als paranoide Hausfrau, die Erlösung im Schreiben suchte. Sexton suchte nach ihrer Rolle in den 1950er Jahren. Eines wollte sie gewiss nie sein, ein „dummes kleines Weibchen“, das von einem gut aussehenden Mann um ein Date gebeten wird, was dann zu einem diamantenbesetzten Ring am Finger führt und zu einer süßen Schar von Kindern.
Und doch verlief Sextons Leben genau so. Ihr wurde die Rolle einer braven Vorstadtehefrau zugedacht, wie sie etwa in der fiktiven Serie „Mad Men“ von der Figur Betty Draper verkörpert wird. Die Figur Betty Draper ist heute ein Teil der Popkultur, weil sie jungen Frauen vermittelt, wie schwer es Frauen in den 1960er Jahren hatten, sich von der ihnen zugedachten Rolle als Hausfrau und Mutter erfüllt zu fühlen.
Betty versucht sich mit dieser Rolle zu arrangieren. Betty stößt dabei an ihre Grenzen. Sie hat in der Vorstadt auf ihren Ehemann Don zu warten, der sich in einer New Yorker Werbeagentur abarbeitet, um müde zu seiner Betty ins Vorstadtidyll zu kommen. Als Don eine Affäre im Büro beginnt, wird Betty gezwungen, ihr Vorstadtleben zu überdenken. Mit einem neuen Mann startet Betty den Versuch, an ihr voriges Leben wieder anzuknüpfen. Betty möchte die ihr zugedachte Rolle mustergültig erfüllen. Ein Leben als arbeitende oder geschiedene Frau findet sie nicht erstrebenswert. Bettys Leben ist geprägt von gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Unzufriedenheiten.
Anne Sexton hingegen wurde auffällig und landete beim Psychiater. Dieser sollte Anne auf den für sie vorgezeichneten Weg mit Kindern, Küche, Kirche zurückbringen. Es folgte ein Selbstmordversuch. Anne Sexton fühlte sich zu nichts nütze. Dies zeigt wie unterschiedlich Frauen in den 1950er und frühen 1960er Jahren mit ihrer Rolle als Hausfrau umgegangen sind. Beide Frauen erlebten den Druck, traditionelle Frauenrollen zu erfüllen. Anne Sexton kämpfte mit ähnlichen gesellschaftlichen Erwartungen, brach jedoch aus der Rolle der Vorstadtehefrau aus, indem sie ihre inneren Kämpfe und persönlichen Erfahrungen in ihrer Lyrik verarbeitete. Sexton nutzte das Schreiben als Ventil und Ausdrucksmittel, um sich von den Zwängen ihrer Zeit zu befreien.
Der Psychiater brachte Anne auf die Idee, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Er bestärkte sie darin, sich literarisch fortzubilden und eine eigene Sprache zu finden. Im ‚Bildungsfernsehen‘ entdeckte sie, wie man ein Sonett schreibt. 1960 stellte Anne Sexton ihren ersten Gedichtband „To Bedlam and Part Way Back„ – „In der Klapsmühle und halb wieder heraus“ – der Öffentlichkeit vor und wurde sofort berühmt, denn dieser Band sprach die weibliche Leserschaft an.
Der Erfolg sorgte für neun weitere Bände, Stipendien und Auszeichnungen wie den Pulitzerpreis. Sie besetzte sogar einen Lehrstuhl für Literatur an der Universität. Aus der verrückten Hausfrau aus der Vorstadt war eine berühmte Dichterin Amerikas geworden. Als Bestseller-Autorin wurde sie zur Ernährerin der Familie. Damit könnte die Story der Anne Sexton enden. Trotz des finanziellen Erfolgs wurde Anne Sexton nicht glücklich und beging am 04. Oktober 1974 Selbstmord.
1959 begegnete Sexton im Seminar von Robert Lowell einer anderen englischen Dichterin und Hausfrau, Silvia Plath. Diese zwei Frauen verbanden ihre zahlreichen Therapien und die Todessehnsucht. Auf Silvia Plaths Tod reagierte Anne Sexton mit Schmerz und Eifersucht. Hatte doch die schriftstellerische Konkurrentin den Tod schneller für sich als Ausweg gewählt und ließ die traurige Freundin alleine zurück.
Über die Gründe für Selbstmorde und Selbstmordversuche amerikanischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller (von Sylvia Plath bis David Foster Wallace) setzt sich der Literaturwissenschaftler Gert Raeithel auseinander. Sein Ergebnis bestätigt die Hypothese, neben psychischen Erkrankungen, Konflikten, die aus der Kindheit resultieren, sind auch oft Depressionen, Alkoholismus und Drogen die Ursache für Suizide.
Anne Sexton kämpfte gegen die Rollenzuweisungen von Frauen in den 1960er Jahren. Allmählich entwickelte sich in der damaligen Gesellschaft ein Bewusstsein für eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Durch die Rolle als Mutter und Hausfrau war Sexton wie die erwähnte fiktive Figur Betty Draper, aus der Serie „Mad Man“ im Alltag von ihrem Mann alleine gelassen. Sie kämpfte mit der Einsamkeit und fühlte sich von den Aufgaben als Hausfrau gleichzeitig überfordert. Erst durch die Psychotherapie wurde sie sich ihrer Gefühle bewusst und verarbeitet diese literarisch.
Der Sänger Peter Gabriel widmete Anne Sexton 1986 das Lied „Mercy Street“ nach ihrem gleichnamigen Theaterstück. Auch andere Künstler ließen sich von Sexton inspirieren. Die Popsängerin Madonna hat in ihren Songs über die Selbstbestimmung der Frau Anleihen bei Anne Sexton genommen. Sie bezog sich in einem Liebesbrief stark auf Sextons Gedicht „Love Song“ und erwähnte Sexton als eine ihrer literarischen Einflüsse. Madonna bewunderte Sextons Fähigkeit, persönliche Themen offen zu behandeln, und fand Trost in Sextons Gedicht „For John, Who Begs Me Not to Enquire Further„, ins Deutsche übersetzt als „Für John, der mich bittet, nicht weiter nachzufragen“. Dieses Gedicht thematisiert die Grenzen der Erkenntnis und die Bitte um persönliche Zurückhaltung bei bestimmten Themen, welches sie oft zitierte, um ihrer eigenen künstlerischen Offenheit Ausdruck zu verleihen. Für mich, anders ausgedrückt, bedeutet das: nicht jedes Geheimnis eines Künstlers muss in der Öffentlichkeit gelüftet werden.
For John, Who Begs Me Not To Enquire Further Analysis
by Anne Sexton
Not that it was beautiful,
but that, in the end, there was
a certain sense of order there;
something worth learning
in that narrow diary of my mind,
in the commonplaces of the asylum
where the cracked mirror
or my own selfish death
outstared me.
And if I tried
to give you something else,
something outside of myself,
you would not know
that the worst of anyone
can be, finally,
an accident of hope.
[…]
Der Komponist Moritz Eggert vertonte den Liederzyklus „Wide Unclasp“, auf Deutsch „öffnen“ oder „lösen“, insbesondere im Kontext von Verschlüssen oder Umarmungen, die inneren Gedächtnisräume der existenziellen Gedichte Anne Sextons. Er fand sie in den Gedichten des Bandes „The Awful Rowing Toward God“, deutsch übersetzt „Die schreckliche Ruderpartie zu Gott„. Dieses Werk ist bekannt für seine tiefgründige Auseinandersetzung mit Themen wie Glauben, Existenz und der Suche nach Sinn.
Anne Sexton war eine faszinierende Persönlichkeit, die trotz ihres literarischen Erfolgs mit inneren Dämonen kämpfte. Ihr Leben und Werk sind voller Widersprüche, die sowohl Bewunderung als auch Erstaunen hervorrufen. Hier sind einige Gedanken, die das Erstaunen des Publikums über Anne Sexton ergänzen könnten: Sexton hatte den Mut, Themen wie psychische Gesundheit und persönliche Krisen offen anzusprechen, was in ihrer Zeit noch stark tabuisiert war. Diese Offenheit machte sie zu einer Pionierin auf dem Gebiet der Literatur. Es ist erstaunlich, wie Sexton ihre persönlichen Kämpfe in kreative Energie umwandelte. Ihre Gedichte sind nicht nur Ausdruck von Schilderungen eines tristen Alltages als Hausfrau, sondern hat auch ironische Momente. Es geht um Selbstreflektion und Selbsterkenntnis. Trotz ihres Erfolgs und Einflusses blieb Sexton eine zutiefst zerrissene Persönlichkeit. Diese Dualität zwischen äußerem Erfolg und innerem Kampf macht ihr Leben und Werk besonders faszinierend und tragisch.
Danke für das Buch mit Rose im Bild von von Gabriele M. Reinhardt auf Pixabay