You are currently viewing Literaturtipp zu Stille, Schweigen und Träumen

Die Themenbereiche Stille, Schweigen und das besondere Erleben der Nacht, im Sinne von Träumen, aber auch dem Kalten, Dunklen, Geheimnisvollen, hat schon die ersten meiner Studierenden an der U3L dazu angeregt, mir Buchempfehlungen zu geben.

Eines davon berührt mich tief, es ist der Debutroman von Eowyn Ivey „Das Schneemädchen“.

„Mabel hatte gewusst, es würde still sein. Darum war es ihr schließlich gegangen. Keine glucksenden oder plärrenden Säuglinge. Keine lärmenden Nachbarskinder draußen auf dem Weg. Kein Füßchengetrappel auf den von Generationen ausgetretenen Holzstufen, kein Spielzeugklackern auf dem Küchenfußboden. Alle diese Geräusche, die an Mabels Versagen und Bedauern erinnerten, sollten zurückbleiben, und an ihre Stelle sollte Stille treten.

Sie hatte sich die Stille in der Wildnis Alaskas friedlich vorgestellt wie nächtliches Schneegeriesel, die Luft lautlos, aber voller Verheißung, doch so war sie nicht. Vielmehr raspelten beim Fegen die Besenborsten auf dem Dielenboden, als würde eine scharfzahnige Spitzmaus an Mabels Herzen knabbern. Wenn sie das Geschirr spülte, klapperten Teller und Schüsseln, als wollten sie zerbrechen. Das einzige nicht von ihr selbst verursachte Geräusch war ein jähes «Krok-kroook», das von draußen kam.“ (Kapitel 1, S. 9)

So beginnt der Roman, dessen Geschichte am Schauplatz Wolverine River, in Alaska, im Jahre 1920, spielt, so kann man es dem Klappentext entnehmen:  Es ist der Wunsch, neu anzufangen, der das kinderlose Paar Mabel und Jack in die Wildnis und Einsamkeit zieht, denen sie sich als unerfahrene Neusiedler oftmals nicht gewachsen fühlen. Mit dem ersten Schneefall überkommt die beiden jedoch ein schon verloren geglaubter Übermut, und sie bauen zusammen ein Kind aus Schnee. Tags darauf entdecken sie zum ersten Mal das feenhafte blonde Mädchen zwischen den Bäumen am Waldrand. Woher kommt das Kind? Wie kann es allein in der Wildnis überleben? Und was hat es mit den kleinen Fußspuren auf sich, die von Mabels und Jacks Blockhaus wegführen?

Das Buch hat mich vom ersten Moment an in eine andere Welt entführt. Die kargen Wintermonate in Alaska, mit den zugefrorenen Seen und den umgebenden wilden Tieren, den Trappern und der großen Stille und Einsamkeit. Im Mittelpunkt das alternde Paar, schweigsam und verhärmt geworden über die tiefe Verzweiflung, nach einer Totgeburt kinderlos bleiben zu müssen. Doch es gibt auch diese übermütigen, sorglosen Momente zwischen den Beiden, als der erste Schnee fällt und die Landschaft sich vor ihren Augen in ein weißes Zauberland wandelt. Im Übermut beschließen sie, „ein kleines Schneemädchen zu machen“. Aus Kugeln wird von Mabel ein Rock geformt und Jack geht mit dem Taschenmesser ans Werk. In den weißen Schnee schneidet er vollkommene, schöne Augen, eine Nase und einen schmalen weißen Mund. Feine Züge, geformt von schwieligen Händen, ein berührender Einblick in seine nie ausgesprochene Sehnsucht.

Es ist die Beschreibung dieser ganz besonderen Stimmung, die mich fasziniert. Das Schweigen des Ehepaars, ob des großen Verlusts und der Angst, den Neuanfang nicht schaffen zu können. Die große Stille und Einsamkeit der arktischen Landschaft, die als eine große Kälte in das Herz der Protagonisten zu kriechen scheint und nur aufgeweicht wird, wenn der überraschende Besuch von George und Esther mit ihren drei kräftigen Jungs die Melancholie für Momente vertreibt.

Die Geschichte hat etwas Traumhaftes an sich und changiert zwischen Realistischem und Märchenhaftem. Auf der Idee des russischen Märchens “Snegurotschka” beruhend, entfaltet sich die Geschichte, die Eowyn Ivey in ihre Heimat um das Jahr 1920 übertragen hat. Ivey wuchs in Alaska auf, wo sie noch heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern lebt. Sie studierte Journalismus und kreatives Schreiben und arbeitete zehn Jahre lang als preisgekrönte Redakteurin und Buchhändlerin. Ihr Debüt “Das Schneemädchen” war international ein großer Erfolg und wurde für den Pulitzer Preis nominiert. “Das Leuchten am Rand der Welt” ist ihr zweiter Roman.

Snegurotschka ist ein Märchen, in dem es um Sehnsucht, Schweigen, Erwachen und Abschiede geht. In Russland ist das Schneemädchen bekannt als die Begleiterin von Väterchen Frost in der Neujahrsnacht. Das Schneemädchen ist auch in einem Opernmusical von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky vertreten.