Du betrachtest gerade „In-Yun“ oder so etwas wie Schicksal?

Einen leisen und anrührenden Film möchte ich Ihnen ans Herz legen. Es geht um Celine Songs Debütfilm „Past Lives“. In diesem Film steht die Frage „Was wäre wenn?“ im Mittelpunkt des Geschehens. Im koreanischen heißt dieses Konzept „In-Yun“ und entspricht – schwer beschreibbar – im wesentlichen der buddhistischen Lehre nach dem Schicksal oder auch dem islamischen „Kismet“, was beides nur einen Teil der Sache trifft.

Die Frage dreht sich auch darum, ob es Menschen gibt, die füreinander bestimmt sind, sich vielleicht aus einem vorherigen Leben kennen und irgendwo im diesseitigen sich begegnen und sofort wieder erkennen.

Bei Celine Song sind es Nora und Hae-Sung, die sich als Kinder liebten, aber trennen mussten, weil Noras Familie aus Südkorea auswanderte. Jahre später finden die beiden sich über Facebook wieder, treffen sich Online, aber nicht in der Realität. Weitere etliche Jahre vergehen, Hae Sung hat gerade eine langjährige Partnerschaft beendet, lebt in Seoul und Nora lebt inzwischen mit ihrem amerikanischen Mann Arthur in New York. Sie treffen sich diesmal in New York und umarmen sich sofort, als hätte es nie eine Trennung gegeben. Noras Mann ist voll Sorge, dass sie ihn jetzt verlassen könnte, aber auch voller liebevollem Verständnis.

Molly Hyo Kim ist Expertin für südkoreanisches Kino und Professorin in Seoul und erklärt zu „Past years“:

„In-Yun ist etwas, woran wir Koreaner*innen unabhängig von unserer Religion glauben. Ich habe viele koreanisch-amerikanische Freund*innen, die darüber sprechen, und ich kenne einen anderen koreanisch-amerikanischen Filmemacher, der an einem Filmprojekt über In-Yun arbeitet. Für uns Koreaner*innen ist In-Yun etwas Alltägliches, es fühlt sich nicht exotisch oder tiefgründig an. Es ist eine Tradition und auch etwas, das wir für selbstverständlich halten.“ Anders könnte es für die Regisseurin Celine Song sein, erklärt die Kino-Expertin, denn sie beschäftige sich in ihren Filmen mit Wurzeln und Identität.

In einem voneinander getrennten Leben taucht bei der Begegnung der Beiden die Frage nach Schicksal und Liebe auf und was ist es, dass schlussendlich ein Leben ausmacht? Past Lives gibt dem Publikum keine Antworten, warum sich die Protagonisten so und nicht anders verhalten. Molly Yo Kim deutet es als „Noras Reise auf der Suche nach ihrer Seele. Es geht um Liebe, aber nicht ganz. Es geht mehr darum, dass sie durch ihre Wurzeln zu sich selbst findet.“

Nora hat sich in New York ein Leben als Künstlerin mit einem Mann mit jüdischen Wurzeln aufgebaut, der sie zutiefst verehrt und auch künstlerisch sehr nahesteht. In ihm hat sie wohl zumindest zum großen Teil das gefunden, was sie in ihrem Leben bislang vermisst hat, sie kann durch ihn und mit ihm ihre Träume verwirklichen. Aus der Dreiecksgeschichte wird am Ende zwangsläufig wieder eine Zweierbeziehung, wenn auch ein Rest an Sehnsucht immer bleiben wird.

Problematiken wie Auswandern und Einwandern werden beschrieben, Hoffnung und Träume, die sich dadurch erfüllen sollen und letztlich steht auch der Wunsch nach Freiheit dahinter. Darauf deutet auch Celine Songs Werdegang, wie Molly Hyo Kim den Leser wissen lässt. „Ihr (Celine Songs) Vater, der sehr bekannte koreanische Filmemacher Song Neung-han, zog auf dem Höhepunkt seiner Karriere nach Kanada, wahrscheinlich in der Hoffnung auf bessere künstlerische Chancen. Die Geschichte von Noras Eltern, die ebenfalls Künstler sind, scheint mir von der Geschichte des Vaters der Regisseurin abgeleitet.“

Wie immer würden wir uns freuen, wenn Sie die Gelegenheit nutzen, Ihre Meinung und Ideen zum Film und zum Konzept In-Yun unter Kontakt an uns zu schreiben.

Danke an Bianka Van Dijk auf Pixabay für das Bild mit dem losen Faden, mit dem sich die Liebenden verbunden haben und der sich nach Goethe nicht zerreissen lässt, frei nach der dritten Strophe von „Neue Liebe, neues Leben“ (1775)

Und an diesem Zauberfädchen,
Das sich nicht zerreißen lässt,
Hält das liebe lose Mädchen
Mich so wider Willen fest;
Muss in ihrem Zauberkreise
Leben nun auf ihre Weise.
Die Verändrung, ach, wie groß!
Liebe! Liebe! lass mich los!

  • Beitrags-Kategorie:Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:7. Oktober 2023
  • Lesedauer:5 min Lesezeit