You are currently viewing “Andorra” – eine Gesellschaft und ihre Außenseiter

„Andorra“ von Max Frisch zählt zu den Literaturklassikern. In einem fiktiven Staat leben Kleinbürger mit Klischeevorstellungen, die den Angriff der ihnen überlegenen „Schwarzen“ fürchten. Ein Stück, 1946 in den Tagebüchern von Max Frisch begonnen, 1961 uraufgeführt, und in seiner Aktualität nach wie vor ungebrochen. Der Kulturkritiker des UniWehrsEl hat es für uns angesehen und kommentiert.

Liebes Universel,

gestern habe ich mir David Böschs Inszenierung von Andorra am Schauspiel Frankfurt angeschaut. Da du die Regie von Bösch z.B. beim Liebestrank in München mochtest, dazu ein kleiner Abriss. Andorra steht wohl zur Zeit wieder auf den Leselektüren im Deutschunterricht. Folglich hat es das Stück 2020 wieder auf dem Spielplan geschafft.

Spätestens wenn es von einem Schauspielstück eine Nacherzählung mit Playmobilmännchen gibt, ist das Stück gerade wieder im Bewusstsein des deutschen Bürgertums angekommen. Sag mir was du liest, und ich sage dir was du denkst.

Andorra ist ein gutes Schauspielstück. Warum fragst du dich? Weil es Spannung aufbaut. Es gibt ein Geheimnis. Die Bewohner werden von einem unsichtbaren Reporter interviewt, der sie befragt, warum etwas Schreckliches mit Andri geschehen konnte. Natürlich willst du als Zuschauer wissen, was das Geheimnis ist. Vermeintlich weißt du schon mehr als die Bewohner, nämlich dass Andri etwas Schreckliches passieren wird.

Doch warum, wieso? Das musst du als Detektiv in deinem Kopf selbst zusammensetzen. Andri ist ein Außenseiter, weil er anders als die anderen Mitmenschen ist. Doch was macht ihn anders? Es ist eine Geschichte, die jeder in Andorra kennt. Andri ist nicht der Sohn vom Lehrer, sondern ein gerettetes Judenkind. Das bringt dem Lehrer Ehre für seinen Großmut. Macht aber Andri zum Fremden. Er findet keine Lehrstelle, der Lehrer muss ihm eine Lehrstelle kaufen. Er macht Erfahrungen der Ausgrenzung und bezieht dies auf sein Jude-Sein. Dabei stellt sich die Legende um seine Rettung als Märchen heraus.

Als seine Mutter, eine Ausländerin, ihn besucht, eskaliert die Situation. Die Mutter wird von den Bürgern Andorras gesteinigt. Doch keiner übernimmt die Schuld, sondern es war der Jude Andri. Der kein Jude ist, aber das will keiner hören. Am Ende muss er sich selbst aufknüpfen. Das Stück erinnert am Ende an Peter Grimes von Britten. Zusätzlich entpuppt sich die zarte Liebe zwischen Andri und Barblin nicht als Rettungsanker, sondern als Geschwisterpaar, das sich liebt.

Um die Sache noch dramatischer zu machen, wird Barblin von einem Soldaten verfolgt. Der ihr nachstellt, und es wird eine Vergewaltigung angedeutet. Doch Barblin kann darüber nicht mit Andri reden. Dieser glaubt Barblin habe ihn betrogen, weil er Jude ist, und er glaubt nicht daran, dass sie Geschwister sind. Selbst als der Lehrer es ihm erzählt. Barblin wird verrückt und die Bewohner vergessen die Geschichte um Andri und Barblin wieder.

David Bösch führt den Zuschauer ruhig in diese Geschichte ein. Es geht um Glauben. Daher hängt ein großes angedeutet Kreuz von der Decke. Es symbolisiert die Christen des Ortes, welche sich den Juden überlegen fühlen. Es stellt den Glauben dar, aber auch den Tod, der Andri erwartet. Genau wie bei Peter Grimes, wir besprachen ihn ausführlich im Interdisziplinären Gespräch im UniWehrsEL, zeigt dieses Stück eine geschlossene Gesellschaft und einen Außenseiter.

Es ist ein dichtes Stück ohne Pause und nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise. Bösch verlässt sich auf die Sprache und hat keine Musik dabei. Getragen wird das Stück vom Ensemble, was viele Einzelfiguren des Ortes Andorra zeigt.

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  • Beitrags-Kategorie:Alltagskultur / Blog
  • Beitrag zuletzt geändert am:16. Juli 2022
  • Lesedauer:4 min Lesezeit