You are currently viewing Gedanken zu “Melancholia” von Lars von Trier

In ihrem Essay „Der bedrohte Schwan“ geht Joke Hermsen unter anderem der Frage nach, warum immer mehr Menschen der Melancholie zum Opfer fallen. Sie empfiehlt, neben einer sozialhistorischen Reflexion auch eine philosophische Besinnung auf die klassische Melancholie und die moderne Depression. Endet Melancholie in einem wehmütigen Bewusstsein unserer Vergänglichkeit, ist es in der Lage, Kreativität und Solidarität zu fördern. Überwiegt aber die pathologische Variante der Depression, dann gewinnen Niedergeschlagenheit, Ohnmacht und Angst die Oberhand.

Hermsen betrachtet politische Ursachen und Konsequenzen und sieht ein Gefühl des Verlustes, das den heutigen Menschen sich selbst entfremdet. Die Einteilung in „Identitätslabels“ wie Religion, Klasse und ethnische Zugehörigkeit führe dazu, andere „Labels“ auszublenden und ende in gegenseitiger Verfolgung und Kampf.

Für Hermsen ist Melancholie aber mit Kreativität, Genialität und somit auch Hoffnung, Lebenslust und Tatkraft verbunden und die Triebfeder dafür, Neues zu schaffen. Ein Beispiel wie Melancholie ein Anstoß zu kritischer Reflexion und ethischem Handeln bildet, sieht Hermsen im Film „Melancholia“ von Lars von Trier. In diesem Film wird die Erde von einem Planeten bedroht und zerstört, der dem Saturn gleicht, jenem Planeten der Astrologie, der Melancholie verursacht.

Sowohl der Regisseur als auch die Hauptdarstellerin Kirsten Dunst kennen das Gefühl der Depression und Lars von Trier ergänzt „er habe mit diesem Film nur in den tiefen Abgrund der deutschen Romantik geschaut“ (vgl. Hermsen, 2021, S. 20).

Am Samstag lief der Film in „One“ und ich hatte Gelegenheit, ihn mir anzusehen. Der Film ist absolut faszinierend. Beginnt er doch schon mit acht-minütigen surrealen Endzeitszenen von überwältigender hypnotischer Qualität. Am Ende ist der Zusammenprall zweier Planeten zu sehen. Begleitet wird die Apokalypse von Wagners dramatischer Musik aus “Tristan und Isolde“.  Dazu fallen in Zeitlupe vom Himmel Vögel; eine Braut schwebt zwischen Seerosen im Wasser; ein Pferd – Traumsymbol des Lebens – sinkt in sich zusammen. In einem Park mit Sonnenuhr und gestutzten Bäumen, werfen Schatten eine unheilvolle Handlung voraus. Bis der Planet Melancholia – quasi einer Keimzelle gleich – in die vergleichsweise winzige Erde einzudringen scheint.

Melancholie entwickelt sich in diesem Film zur Angstvision, die Menschen trennt und sie voneinander entfremdet. Der lebenslang zutiefst melancholischen Justine (Kirsten Dunst) misslingt die Rückkehr zur Normalität, indem sie ihre Hochzeit mit einer märchenhaften Feier auf einem schwedischen Schloss inklusive 18-Loch-Golfkurs begeht. Die Rituale vom Kuchenanschneiden bis zum Brautstraußwerfen sind einfach zu viel für sie. Sie verweigert sich und beobachtet gleichzeitig, dass der Stern Antares aus dem Sternbild Skorpion plötzlich nicht mehr am Himmel zu sehen ist. Ihre fürsorgliche Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg)  hat unglaubliche Angst vor dem riesigen Planeten Melancholia, auch wenn ihr Mann John (Kiefer Sutherland) ihr immer wieder versichert, dass er an der Erde vorbeifliegen wird. Claire wird immer besorgter, Justine immer gelassener in Anbetracht des drohenden Weltuntergangs …

Ich beginne nachzulesen, weil mich selbst der Film zunächst ratlos zurücklässt. Zusammengefasst beginne ich zu verstehen: Mit Justines Wandlung, in ihrer mystischen Art scheint sie das Ende vorauszusehen, scheint etwas Hoffnungsvolles zu liegen. Der Planet Melancholia als Rettung vor dem Menschen, vor dem Bösen auf der Welt. Von Trier scheint auszudrücken, krank seid ihr, die Menschheit unheilbar. Justine erscheint als das Alter Ego von Lars von Trier, der die Botschaft vermittelt, die Depressivität, die die Welt zerstört, ist zugleich der einzige Ausweg, sie zu retten …

Ich begreife, Lars von Trier hat seinen Film wie eine Oper angelegt. Dabei bedient er sich der Musik Wagners. Pathetisch inszeniert, löst der Film gerade durch die Dramatik der Musik eine expressive und akzentuierte Stimmung aus. Begonnen mit der Ouvertüre, in Triers Film von den Prager Philharmonikern gespielt, die Besetzung des Orchesters besteht aus Streichinstrumenten, wie Violinen, Bratschen und Kontrabässe, gefolgt von Holz- und Blechbläsern, erhält der Film seine Größe und Schwerfälligkeit. Von Trier lässt die Ouvertüre Wagners in den Situationen erklingen, in denen der Untergang der Erde im Vordergrund steht. Szenen, in denen Justine sehnsüchtig, Claire verzweifelt und ängstlich dem Ende der Welt entgegenblicken.


Und meine weiteren Recherchen ergeben: Richard Wagners Furcht war, sein Tristan müsse »die Leute verrückt machen«, bekommt durch Lars von Triers Film neue Nahrung. Schon länger ist ja bekannt, dass sogar das nur auszugsweise Anhören des Werks nicht ohne Folgen für die Gesundheit geblieben ist. Wer Thomas Manns Erzählung „Tristan“ (1902) gelesen hat, weiß wovon die Rede ist.

Gabriele Klöterjahn, jene Dame, die trotz ärztlichen Verbots auf dem Klavier dem Mitpatienten Detlev Spinell in der Lungenheilanstalt besagtes Lied aus Tristan und Isolde vorspielte, hat letztlich damit ihr Ende besiegelt …

Auch in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ weiß der Erzähler im Kapitel „Eine Liebe von Swann“ von der geradezu körperlichen Wirkung dieser Musik zu berichten:

„Wenn der Pianist den Walkürenritt oder die Tristan-Ouvertüre spielen wollte, erhob Madame Verdurin Einspruch, nicht weil ihr diese Musik mißfiel, sondern weil sie im Gegenteil zu stark auf sie wirkte. ›Wollen Sie absolut, daß ich meine Migräne bekomme? Sie wissen ja, es ist immer dasselbe, wenn er so etwas spielt. ich weiß doch, was mich erwartet! Morgen früh, wenn ich aufstehen will, habe ich die Bescherung!“

Ich möchte mit Hermsens Ausführungen schließen, in denen es darum geht, die Melancholie „gesund“ zu erhalten, damit sie uns nicht überflutet. Das gelingt nur dann, wenn wir es fertig bringen, Verlust und Veränderung, die zum Leben gehören, anzunehmen und in Neubeginn zu verwandeln, das was Hannah Arendt „die höchste menschliche Fähigkeit“ nennt. Gelingt uns das nicht, dann „wird unsere Melancholie von Unruhe, Unsicherheit und Angst vor allem auf die dunkle Seite des Verlustes gezogen.“ (vgl. ebd., S. 22)    

Danke für das Bild vom Urknall von Gerd Altmann.

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