You are currently viewing Verstehen an der Grenze – Grenzen des Verstehens

Stellen Sie sich vor, Jemand zieht eine rote Linie und erklärt, die dürfe nicht überschritten werden. Dieser Jemand zieht die rote Linie nicht tatsächlich, sondern sie besteht in seinem Kopf. Damit markiert er seine geschützte Zone, in die er die Dinge einbringt, die er für sich als nicht verhandelbar erklärt hat. Metaphorisch und damit konzeptuell weitergedacht, steckt er eine virtuelle Grenze ab, sozusagen als letztes kommunikatives Verhandlungsangebot. Wird sie „überschritten“, wie dies leider nicht nur im politischen Geschehen allzu oft passiert, werden „Verteidigungsmaßnahmen“ ergriffen.

Was meint dies im Alltagsverständnis? Und warum kann da Eine oder Einer eine rote Linie ziehen, die nicht überschritten werden darf? Und warum sollte ein anderer diese Linie als Grenze anerkennen?

Die „rote Linie ziehen“, ist zunächst einmal eine Metapher, die einen konkreten Hintergrund hat. Der wird meist im militärischen Bereich vermutet. Verdeutlichen ließe sich dies recht gut an einem Filmtitel wie The Thin Red Line (1998). Was nun wieder wörtlich übersetzt unter ‚einer dünnen roten Linie‘ zu verstehen ist, erschließt sich nicht sofort. Also wurde er übersetzt mit ‚Der Schmale Grat‘. Was einen aber auch rätselnd zurücklässt, aber nicht sofort an einen militärischen Einsatz denken lässt, eher an die Überwindung eines Hindernisses.

Sprachliche Bilder wie die bereits genannte „rote Linie“ assoziieren etwas Militärisches und das wiederum ist mit Kampfmetaphorik verbunden. Da landet man unwillkürlich beim Fußball, wo die „Stürmer“ sich im „Angriff“ auf das „gegnerische“ Tor zu bewegen, wo „Verteidiger“ sie am Losstürmen hindern. Wo Fans mobilisiert werden, die in der „Abwehr“ selbst zum „Sturm“ auf das „gegnerische“ Tor blasen. Da wird dann gnadenlos die „rote Linie“ überschritten und zum „kontern“ angesetzt.

Wie lässt sich nun der Zusammenhang zwischen Kriegsmetaphern und Sportmetaphern erklären? Unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit ist durch konzeptionelle Metaphern strukturiert. Sie aktivieren so genannte Frames. Diese wiederum sind kognitive Entwürfe von sprachlich organisierten Szenarien, die unser Denken kategorisieren. Ein Beispiel dafür sind Spiel (Fußball) und Krieg. Ein Zielbereich („Das Spiel) und ein Quellbereich (Der Kampf) werden miteinander verknüpft. Man könnte daraus schließen „Spiel ist Kampf“ oder „Kampf ist Spiel“.

Was bedeutet das nun für das Alltagsverständnis, dass die „rote Linie“ gezogen wird, die nicht überschritten werden darf?  Es geht um eine Grenze oder ein Limit mit perspektivischer Offenheit, die daraus resultiert, dass eine Linie von zwei Seiten überschritten werden kann. Oder anders gesagt, es kann, je nach Perspektive, wie im Beispiel Spiel und Kampf etwas ganz anderes damit verbunden werden. In jedem Fall birgt es die Frage: Was ist es, was so gefährdet ist, dass es durch eine (gedachte) Linie geschützt und eingehegt werden muss? Welches Gefahrenpotential verbirgt sich für den jeweils anderen hinter dem potentiellen Überschreiten einer Grenze?

Mit dem Komplex der roten Linie, Grenze, Barriere, Begrenzung, Abgrenzung und dem des Verstehens, Verstanden-Werdens, Missverstehens, Nichtverstehens habe ich mich schon in verschiedenen Kontexten auseinander gesetzt, sei es im Kontext des Verstehens von Menschen in Tagespflegeheimen oder auch beim Weltpoesiefestival in Rödermark, in dem es darum ging, die Grenzen in unseren Köpfen durch Kunst und Kultur zu überwinden.

Um den Begriff der Grenze überhaupt zu verstehen, kann man sich ihm über die Vorstellung der Grenze im territorialen Sinne nähern. Wenn an einer Stelle der Geltungsbereich eines Normen- oder kulturellen Sinnsystems faktisch endet, bedeutet dies die Wirksamkeit einer Konvention. Möglicherweise ein Anlass für Kommunikation.

Schon der Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau verstand Grenzziehung als Beginn des Übels der Zivilisation. Dies zeigte der Philosoph am Beispiel eines Menschen auf, der einen Strich auf den Boden zieht und erklärt: Das ist meines. Geltung bekommt es aber erst dann, wenn ein anderer das auch so sieht.  

Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss stellte fest, dass es gerade bei Grenzziehung seitenspezifische Parallelen gibt. Es geht um die existentiellen Bedürfnisse des Menschen, die Suche nach Anerkennung, aber auch um Kränkungen und Verletzungen. Dann kann aus einer gedachten roten Linie eine Barriere werden, dann entstehen aggressive Lösungen, dann wird Kommunikation verweigert.

Der Sozialanthropologe Frederik Barth lehrt uns, eine Grenze als eine Grenze und als ihr Gegenteil zu begreifen, weil eine hermetische Grenze das Absterben der Vitalität derjenigen Gruppe bedeutet, die sich mit dieser Grenze schützen wollte.

Für den Kommunikationsforscher und Autor Paul Watzlawick gehört Verstehen an der Grenze zur Pragmatik menschlicher Kommunikation. Grenzen des Verstehens ist danach als Erscheinungsform des kommunikativen Spezialfalls der Konfusion zu betrachten, dann nämlich, wenn Verständigung nicht gelingt. Das passiert, wenn einer eine rote Linie zieht und der andere diese nicht anerkennen kann. Zum Verstehen wollen gehören nämlich Verständigungsprozesse und die setzen Kommunikation voraus.  

Danke für das Bild von Moshe Harosh auf Pixabay