You are currently viewing Buchempfehlung: Orlando Figes „Die Europäer“

Liebe Elke,

Ich lese mich gerade mit Begeisterung fest am Schmöker von Orlando Figes „Die Europäer“. Der britische Historiker beschreibt anhand dreier Persönlichkeiten aus dem Kulturleben des 19. Jahrhunderts das Entstehen eines europäischen Gedankens im damaligen (Klein-)Staatenteppich.

Figes sieht im Entstehen eines länderübergreifenden Kulturaustausches den Ausgangspunkt für das Zusammenwachsen der einzelnen Staaten hin zu dem Gebilde, was wir heute staatstragend ‚Europa‘ nennen. Dieser Kulturaustausch wurde aus seiner Sicht vor allem gefördert durch die Entwicklung des Litographieverfahrens und durch den Ausbau eines staatenübergreifenden Eisenbahnnetzes. Bücher und Noten konnten in großer Auflage kostengünstig und unaufwändiger in großer Zahl hergestellt werden. Die Eisenbahn ermöglichte deren schnellen Transport. Aber nicht nur Güter gelangten nun weniger aufwendig von A nach B, sondern auch Menschen.

 
Dieses Buch hätte gut zu Deinem Seminar Zug der Zeit – Zeit im Zug aus dem Wintersemester 2020/2021 gepasst. Es schildert auf sehr nachdrückliche Weise, wie die Entstehung des Eisenbahnnetzes die Welt verändert hat. Das hatte nicht nur politische und wirtschaftliche Auswirkungen, sondern es ermöglichte den Menschen auf eine neue Art Kultur zu erleben und zu transportieren. Der Opernbesuch in einer fernen Stadt war nicht mehr utopisch weit weg. Opernensembles gingen auf Reisen.

Orlando Figes schildert facettenreich das Künstlerleben des Ehepaars Viardot. Pauline Viardot-Garcia war eine der großen Opernsängerinnen ihrer Zeit. Ihre Laufbahn begann 1836 im Alter von 15 Jahren. Sie trat in die Fußstapfen ihrer tödlich verunglückten Schwester Maria Malibran. Gefördert und begleitet wurde sie in den 23 Jahren ihrer Karriere vom Kunstkritiker Louis Viardot, der später auch ihr Ehemann wurde. Ihr leidenschaftlichster Verehrer war der russische Dichter Iwan Turgenjew. Mit dem Buch von Figes kann man die drei quer durch Europa begleiten von Spanien im Süden bis Russland im Norden. Dabei trifft man auf das Who is Who der damaligen Kunstwelt. Figes scheut nicht vor Klatsch und Tratsch zurück. Das ist sehr unterhaltsam. Aber die politischen Zusammenhänge und Entwicklungen kommen nicht zu kurz und das ist nebenher auch noch lehrreich.

Zugegeben, Orlando Figes ist eine umstrittene Historikerfigur, aber mir vermittelt er einen neuen Blick auf Europa, das wohl eine viel längere und nicht nur politisch geprägte Geschichte hat.

Hier erfährt man noch mehr über das Buch https://www.deutschlandfunkkultur.de/orlando-figes-die-europaeer-die-verbindenden-faeden-der.1270.de.html?dram:article_id=486549