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Sigmund Freud bezeichnet die Verbindung Tod und Weiblichkeit als die “unergründlichsten Rätsel der westlichen Kultur”.  Das absolut Fremde, das Andere gilt für den Tod per se, die Weiblichkeit hingegen wurde eher so von Männern definiert, so beschreibt es Klaus Fiedler in seinem Beitrag zu Tod und Trauermusik des 20. Jahrhunderts in „Ohlsdorf – Zeitschrift für Trauerkultur“.

Fiedler beschreibt weiter, Tod wie Weiblichkeit dienten auch als Gegensatz und Spiegelung für den bürgerlichen Mann und sein Selbstverständnis, denn in ihnen könnten Zweifel und Ängste des Mannes angesichts des “Neuen Weibes” (Ernst Bloch) gebündelt werden. In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es das Frauenbild der femme fragile, zart, anmutig, schweigend, und das Gegenbild der femme fatale, bedrohlich (für den Mann), verführerisch, sich gegen gesellschaftliche Normen und Werte stellend.  

Diese Grenz-Überschreitungen werden zwar – auf der Bühne wie im Leben – vom Bürgertum genossen, so Fiedler, jedoch nur, solange sichergestellt ist, dass die Sühne in Form des Todes folgt: So befiehlt der von Salomes Gewalttätigkeit schockierte Herodes in Richard Strauss’ Oper Salome (1903-05): „Mann töte dieses Weib!“.  Aber erst nachdem er sich ihrem Tanz und ihren Wünschen lustvoll ergeben hat.

Ganz anders verläuft die Geschichte der „Lulu“ von Frank Wedekind. Der „weibliche Don Juan” gilt als das Paradebeispiel der verderblichen, todbringende Frau, deutlich werdend im Lied der Lulu (Komponist Alban Berg), indem der Mord an ihrem Ehemann Dr. Schön besungen wird. Lulu muss ihr Handeln mit dem Tode sühnen, allerdings ist ihr Mörder – Jack the Ripper – nicht (mehr) gesellschaftlich legitimiert, wie es Fiedler interpretiert.  

Bleibt die Frage, ob weiblicher Nonkonformismus anders behandelt wird als männlicher? Dieser Frage ist unser Kulturbotschafter des UniWehrsEL nachgegangen, indem er Frank Wedekinds „Lulu“, (die Büchse der Pandora), in der Oper von Alban Berg am Staatstheater Darmstadt gesehen hat und zur Moral von Bert Brechts „Mackie Messer“ in Beziehung setzt. Herzlichen Dank dafür!

Liebes UniWehrsEL,

Lulu und die Frage wer frisst hier wen? Lulu ist die Titelfigur des Buches „Büchse der Pandora“. In dem griechischen Mythos öffnet Pandora aus Neugier eine von den Göttern geschenkte Büchse, ohne sich dabei an die Regel zu halten. die Büche dürfe nicht geöffnet werden. In der Büchse befinden sich Krankheiten, der Tod und Leid für die Menschheit. Aus diesem Mythos entstand die Redewendung „die Büchse der Pandora öffnen“. Damit gemeint ist, dass jemand Unheil oder Schaden anderen Menschen zufügt, weil seine Neugier über die Angst vor Bestrafung siegt. Die Figur Lulu ist eine moderne Pandora – sie richtet Schaden an, bewusst oder unbewusst. Konkret bringt sie ihre drei Ehemänner um. Ehemann Nr. 1 stirbt an Herzversagen, nachdem er seine Frau beim Sex (eingebildet oder nicht) mit einem Maler erwischt hat. Dabei regt er sich so auf, dass er stirbt.

Ehemann Nr. 2 ist dann der Maler mit dem Lulu den ersten Ehemann betrogen hat. Ehemann Nr. 2 erhängt sich selbst in dem Moment in dem er erkennt, dass er von Lulu manipuliert wird. Ehemann Nr. 3 kennt Lulu schon als Kind. Vielleicht hat er sich schon im Kindesalter an ihr vergangen hat

Die Person Lulu bleibt dem Zuschauer rätselhaft. Der Zuschauer erfährt nichts über Lulus Gedanken, sondern sieht nur das Handeln der anderen Personen. Ehemann Nr. 3 will nicht Lulus Ehemann werden. Er versucht sie an einen weiteren Ehemann zu verheiraten. Doch sie zerstört den Plan, indem sie am Theater, wo sie als Tänzerin arbeitet, streikt. Sie tut dies nicht aktiv. Der Körper streikt. Sie bricht zusammen. Das löst einen Skandal aus und der potentielle Kandidat für eine weitere Heirat verschwindet.

So muss Dr. Schön am Ende Lulu heiraten, weil er einen Skandal verhindern will. Sie könnte offenlegen, dass er sie als Kind begehrt hat. Nach der Heirat befindet sich Dr. Schön auf der Flucht vor Lulu. Er hat Angst ebenfalls zu Tode zu kommen. Daher beschließt er mit Lulu die direkte Konfrontation zu suchen. Im Todeskampf bringt Lulu Dr. Schön um. Für ihre Tat müsste Lulu ins Gefängnis, weil es nicht so eindeutig ist, ob Lulu in Notwehr den Dr. Schön getötet hat oder aus Rache dafür, dass er sie verlassen will. Doch nicht Lulu geht ins Gefängnis, sondern eine andere Frau als Liebesdienst an ihr. So stürzt Lulu auch die Gräfin ins Unglück.

Nachdem keine weitere Heirat aufgrund der Reputation von Lulu möglich ist, beginnt sie ihren Körper offiziell zu verkaufen. Davor galt es im Rahmen der Ehe als moralisch abgedeckt. In einer Szene geht es nun um “Jungfrau-Aktien”; damit ist gemeint, dass Lulu ihre “Jungfräulichkeit” auf dem Markt der willigen Männer anbietet. Doch diese Jungfrau-Aktien stürzen ab, weil sich die gewünschte Eigenschaft “Jungfräulichkeit” nicht beliebig oft verkaufen lässt, wenn der Ruf einer tadellosen Jungfrau einmal bei den Männern weg ist, kann er nicht wiederhergestellt werden. So wird Lulu von der gefragten hippen Ware zum Ladenhüter. Sie verliert den Deckmantel der Exklusivität und wird zur beliebigen Hure. 

In der Geschichte besuchen Lulu am Ende die drei Ehemänner, in Gestalt von drei Freiern, erneut. Der letzte Freier bringt den Tod als Jack the Ripper. Eine Lulu ohne Mythos ist wertlos für die Männergesellschaft. Daher muss Lulu sterben.

Lulu ist eine gesellschaftliche Außenseiterin wie die Figuren der Dreigroschenoper. Lulu endet dort, wo die Huren in der Dreigroschenoper schon sind – auf der Straße und der Willkür des Marktes ausgesetzt. Die Huren des Räubers Mackie können nur ihren Körper anbieten, genauso wie Lulu. Lulu frisst als Mythos oder als “Exklusivmarke“ ihre drei Ehemänner. Mit dem Verlust der Exklusivität schwindet der Mythos und damit der Wert von Lulu. Das hat sie mit dem Räuber Mackie Messer gemein. Der lebt auch vom Mythos seiner Ballade und dem Glauben daran, dass er unverwundbar ist. Mackie soll am Strick enden. Lulu tötet ein Messer und der Ausspruch: „Das war jetzt viel Arbeit“.

Lulu wird im Gegensatz zu Mackie Messer nicht in den Adel erhoben – wobei dies die ironische Tat des Autors Brecht ist und kein realistisches Ende. Beide Stücke zeigen gesellschaftliche Außenseiter. Lulu war verboten, weil es zum Thema macht, dass sich ehrenwerte Frauen durch unglückliche Schicksalsschläge in Huren verwandeln müssen, um zu überleben. Auch die “Dreigroschenoper” entsprach nicht den Moralvorstellungen und war 1933 verboten, sie hat es erst 2018 bis in die Kinos geschafft. Beide werden aber bis heute mit großem Erfolg aufgeführt und gefeiert, nicht zuletzt, weil Moral im Auge des Betrachters liegt oder auch der Brecht‘sche Satz gilt: „Erst kommt das Fressen – dann kommt die Moral“.